Es gibt genug Compliance Officer, die sich tagtäglich den Kopf zermartern, was sie denn noch tun sollen, um die Gefahr von Kartellen zu minimieren. Leider sieht die Realität aktuell so aus: Trotz intensiver Anti-Kartell-Schulungen durch die Compliance-Abteilung gibt es Kartelle. Und die wird es auch weiterhin geben. Daran wird kein Compliance-Officer etwas ändern können. Die Redaktion dieser Zeitschrift hat Kartelle analysiert, die vom Bundeskartellamt in den letzten zehn Jahren mit einem Bußgeld belegt wurden. Die Auswertung gibt aufschlussreiche Hinweise darauf, warum ein Kartell entsteht, was auf ein Kartell hinweisen könnte, wie ein Kartell strukturiert ist und wer aus der unternehmensinternen Hierarchie am Kartell beteiligt war.
Methode muss sein
Untersucht wurden dazu alle Presseerklärungen und ausführliche Fallberichte aus dem Dokumentenband der Tätigkeitsberichte des Bundeskartellamts von 2004 bis 2014. Eine lediglich kurze Erwähnung eines bestimmten Kartells konnte nicht verwendet werden, da es vorliegend um eine Analyse der Hintergründe und des „Wie“ eines Kartells ging. Leider hat das Bundeskartellamt bisher nur zwei Dokumentenbände für die Tätigkeitsberichte vorgelegt: für die Jahre 2012/2011 und 2010/2009. Das bedeutet, dass für die Kartelle der davor liegenden Jahrgänge, also zwischen 2004 und 2008, zum Teil wenig ausführliche Quellen vorliegen. So fehlen zum Beispiel Informationen, wie manche Kartelle in den Jahren 2004 bis 2008 aufgedeckt werden konnten.
Soweit ein Kartellverfahren über mehrere Jahre ging und es mehrere Teilentscheidungen des Bundeskartellamts gab, taucht dieses Kartell in der Grafik in dem Jahr auf, in dem die letzte Entscheidung fiel. Im Kartellfall der Hersteller von Betonpflastersteinen wurde die erste Geldbuße zum Beispiel im März 2012 auferlegt, das Verfahren wurde aber erst durch die zweite Entscheidung am 11. September 2014 abgeschlossen. Deswegen taucht dieses Kartell in der Analyse auch im Jahr 2014 auf.
Warum haben wir diese Analyse gemacht? Das liegt auf der Hand: Es gibt bisher keinen systematischen Überblick darüber, wie und warum ein Kartell zustande kam, wie die Kartellbrüder konkret vorgingen und wie das Kartell aufflog. Auch gibt es bisher wenig Befunde darüber, wer im Hinblick auf die Unternehmenshierarchie und Position am Kartell beteiligt war. Diese Fragen versucht die Kartell-Analyse zu beantworten.
Alle haben mitgemischt
War es immer der Vertrieb? Er war es in den meisten Fällen. Aber es gab auch ein überraschendes Ergebnis: An insgesamt 59 untersuchten Kartellen waren alleine in 42 Fällen die Geschäftsführung beziehungsweise Vorstände beteiligt. Das sind immerhin 71,2 Prozent und bedeutet, dass die Führungsetage in mehr als jedem zweiten Fall beim Kartell mitgemischt oder es zumindest toleriert hat. Im überwiegenden Teil aller Fälle war der Vertrieb und die Geschäftsleitung eines Unternehmens gemeinsam in ein Kartell involviert (Vertrieb in 44 aller Fälle und die Geschäftsführer/Vorstände in 42 aller Fälle).
Bei vertikalen Preisbindungen (wie zum Beispiel im Falle des Herstellers von Dr. Hauschka-Produkten WALA, TTS Tooltechnic oder des Herstellers von Matratzen u.v.a.) war es immer die Geschäftsführung selbst – denn es handelte sich in allen Fällen um eine ausdrückliche Unternehmensstrategie. Die Überwachung und „Bestrafung“ der Ungehorsamen wurde von diesen Unternehmen systematisch durchgeführt. Kein Vertriebler macht das im Alleingang.
Was diese Ergebnisse für die Compliance-Arbeit bedeuten, ist ebenso klar wie herausfordernd: Bei den Geschäftsführern und Vorständen handelt es sich um eine Gruppe, die bisher nicht wirklich durch eine Schulung im Kartellrecht abgedeckt war. Diese Hierarchieebene bekommt ja in den allermeisten Fällen von der Compliance-Abteilung „Briefings“ und Berichte. Für mehr haben sie keine Zeit. Die Compliance Officer müssen nun umdenken, wie sie dieses Risiko minimieren können. Darüber hinaus können sich daraus ganz erhebliche Interessenskonflikte ergeben, da eine Compliance-Organisation direkt an die Geschäftsführung beziehungsweise den Vorstand berichtet. Die Frage ist daher: Was muss und kann ein Compliance Officer tun, falls die Geschäftsleitung in ein Kartell involviert ist?
In 9 Fällen (15 Prozent) waren Verbände an Kartellen beteiligt. „Überall dort, wo Wettbewerber aufeinander treffen, bedarf es einer besonderer Sensibilität im Hinblick auf die kartellrechtlichen Anforderungen“, sagt Rechtsanwalt Jan Paul Marschollek, Legal Counsel und Compliance Officer des Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e. V. (ZVEI) sowie Mitglied des Präsidiums des Berufsverbandes der Compliance Manager (BCM). „Alle Marktteilnehmer haben sich ohne Ausnahme an die gleichen Spielregeln zu halten und müssen sich im Wettbewerb behaupten.“
Die kleinen Hinweise
Die spannende Frage ist, wann entsteht eine Anfälligkeit für ein Kartell? Also, wann kommt es zu einer Absprache? Und woran kann ein Compliance Officer selbst erkennen, dass er im Unternehmen tätig werden soll? Dazu fasst die folgende Aufstellung gewisse Auffälligkeiten zusammen (vertikale Preisbindungen wurden darin nicht berücksichtigt, da diese anders gelagert und daher nicht vergleichbar sind). Es handelt sich hier natürlich nicht um eine erschöpfende Beantwortung der oben aufgeworfenen Fragen, sondern lediglich um Hinweise auf der Grundlage von Informationen, die den vom Bundeskartellamt der Öffentlichkeit zugängigen gemachten Dokumenten zu entnehmen waren. Auch gibt es nicht die eine Antwort für alles, sondern die oben aufgeworfenen Fragen können nur branchenspezifisch, produkt- und zeitpunktabhängig beantwortet werden:
Hersteller von Betonpflastersteinen
Das Produkt differenziert sich nicht durch Komplexität oder Technologie, es ist nicht spezialisiert oder spezifisch. Dazu ist es auch transportkostenintensiv.
Anbieter von regenerativen Wärmetauschern in Kraftwerken
Es ging um die Serviceleistungen in Verbindung mit den Wärmetauschern, die überall gleich sind.
Bierbrauer
Es gibt Vorgaben, was ein Bier in Deutschland enthalten darf – d.h., geringes Differenzierungsmerkmal.
Zuckerhersteller
Es gab ein Überangebot; die EU hat zu diesem Zeitpunkt ein Quotenregime für Zucker eingeführt; das Produkt hat keine Differenzierungsmerkmale (Zucker ist überall Zucker).
Hersteller von Haushaltsgeschirr
Traditionelle und alte Branche; die Mehrwertsteuererhöhung wurde ausgenutzt; die Kartellanten berichteten von wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Branche.
Schienenkartell
Gewachsene, traditionelle Kundenbeziehungen, die Firmen kannten daher ihre Kunden sehr gut und wussten um ihre Vorlieben (an wen also wahrscheinlich ein Auftrag eher vergeben wird).
Konsumgüterhersteller, Hersteller von Drogerieartikeln, Drogerien, Großhändler
Massenwaren.
Unternehmen der Mühlenindustrie, Kaffeeröster
Die Dienstleistung bzw. das Produkt differenzieren sich nicht.
Süßwarenhersteller
Verteuerung der Rohstoffe zu einem bestimmten Zeitpunkt (Anmerkung des Bundeskartellamtes: „unternehmerische Lösung wurde nicht gesucht“).
Hersteller von Automatiktüren
Hier wurden nicht die Preise für Automatiktüren abgesprochen, sondern die sich daran anschließenden Serviceleistungen (Anfahrtspauschalen etc.), die sich nicht von den anderen Anbietern unterscheiden.
Chemiegroßhandel
Geringes Differenzierungsmerkmal, ähnliches Produktangebot.
Hersteller von Feuerwehrfahrzeugen und Feuerlöschfahrzeugen mit Drehleitern
Wenige Anbieter im Markt; Herstellung ist kostenintensiv; viele regulatorische Vorgaben zur Herstellung von Feuerwehrfahrzeugen; finanzieller Druck in den Gemeinden, die diese Fahrzeuge erwerben.
Hersteller von Betonrohren und -schächten
Das Produkt differenziert sich nicht durch Komplexität oder Technologie, es ist nicht spezialisiert oder spezifisch. Standardbauteile.
Hydrantenkartell
Kannten ihre Kunden sehr gut.
Hersteller von Wasch- und Reinigungsmitteln
Massenware.
Händler von Schwereöl für Seeschiffe
Im Gebiet gab es nur zwei Anbieter.
Hersteller von Instant-Cappuccino
Geringes Differenzierungsmerkmal.
Hersteller von Spanplatten, OSB-Platten und anderen Holzwerkstoffprodukten
Geringes Differenzierungsmerkmal, nicht hochtechnologisch.
Hersteller sowie Großhändler von Papptellern
Geringes Differenzierungsmerkmal.
Hersteller von Druckchemikalien
Ähnliche Produkte, Spezialprodukte, kannten ihre Kunden sehr gut, nutzten den Anstieg der Rohstoffpreise.
Kesselhersteller
Die Kartellanten haben die politischen Entwicklungen ausgenutzt (Wiedervereinigung).
Hersteller von Kabelfüllmischungen
Es ging um Standardprodukte.
Brillenglashersteller
Komplexe und intransparente Kalkulationsformeln.
Baustoff-Fachhandel
Überall dieselben Produkte, kein Differenzierungsmerkmal.
Transportbetonhersteller und Mörtelhersteller
Das Produkt differenziert sich nicht durch Komplexität oder Technologie, es ist nicht spezialisiert oder spezifisch.
Flüssiggasunternehmen
Geringes Differenzierungsmerkmal.
Hersteller von Tondachziegeln
Haben die von der Politik und Medien gemachte Stimmung über die Höhe der Energiekosten ausgenutzt.
Hersteller von Auftausalz
Geringes Differenzierungsmerkmal.
Hersteller von Luxusartikeln
Zu viele Anbieter, Marktüberflutung mit ähnlichen Produkten, Nachahmerprodukte.
Hersteller von Dekorpapier (Spezialpapiere zur Oberflächenveredelung von Holzwerkstoffen)
Überkapazität.
Pharmahersteller und Verbände
Es traten nachteilige gesetzliche Regelungen in Kraft.
Apotheken in Hildesheim
Neuer Billiganbieter im Markt.
Werbezeitvermarkter
Werbemarkt ist hoch volatil, Anzeigenkunden brechen sehr schnell weg; in Krisenzeiten spart man bei Anzeigen zuerst ein.
Hersteller von elektrischen Haushaltskleingeräten
In Deutschland nur zwei führende Hersteller, die die Produkte für verschiedene Marken machen.
Pharmagroßhändler
Die gleichen Produkte.
Gewürzhersteller
Dieselben Rohstoffe.
Industrieversicherer
Im Grunde dieselben Leistungen; die Kartellanten haben auf den harten Wettbewerb hingewiesen.
Papiergroßhandel
Geringes Differenzierungsmerkmal; mehrere regionale Kartelle schlossen sich zusammen.
Möbelspediteure
Die Dienstleistung ist überall gleich, Unterschiede sind nur durch Preis zu erreichen.
Bei der Arbeit an der Analyse fiel auf, dass nicht generell gesagt werden kann, ob ein Kartell bei vielen oder wenigen Anbietern in einer Branche zustande kommt. Es ist den Umständen der Branchen geschuldet, wann es zu Absprachen kommt: im Fall der Anbieter von Schweröl gab es nur zwei Anbieter in dem betreffenden Gebiet. Bei den Mörtel- und Tondachziegelherstellern gibt es aber viele Anbieter und trotzdem hat sich die gesamte Branche zu einem Kartell zusammengeschlossen. Es gab Kartelle, die zum Beispiel die Mehrwertsteuererhöhung, den Anstieg der Rohstoffpreise oder die politische Stimmung (Energiekosten) ausgenutzt haben.
Interessant ist auch, zu welchen Maßnahmen die Kartellanten griffen, um die Disziplin im Kartell aufrechtzuerhalten. Dies kann anhand des Schienenkartells oder bei den Herstellern von Kesseln und Industrieversicherern studiert werden. Die genaue Kenntnis der Disziplinierungsstrukturen ist vor allem für die wirksame Compliance-Arbeit wichtig (Anreize etc.). In einem Fall (Papiergroßhändler) gab es sogar Wiederholungstäter.
Von den 59 untersuchten Kartellen flogen 20 Kartelle durch Bonus- beziehungsweise Kronzeugenantrag auf, in zwölf Fällen gab es Beschwerden aus dem Markt und von den Wettbewerbern, zwei wurden durch einen anonymen Hinweis bekannt, einer durch die Nachprüfung der EU und in einem Fall stießen die Behörden auf den Kartell im Rahmen der Untersuchung zu einem anderen Kartell. Leider werden in 23 Fällen vom Bundeskartellamt keine Angaben gemacht, wie die Existenz eines Kartells bekannt wurde. Es bleibt hier abzuwarten, wie in den nächsten Jahren die Zahl der Kartelle, die durch einen Bonus- beziehungsweise Kronzeugenantrag aufgedeckt werden, vor dem Hintergrund des sich entwickelnden Kartellschadensersatzrechts verändern wird.
Wie der Präsident des Bundeskartellamts, Andreas Mundt, schon im Interview sagt (siehe ab S. XX), Kartelle wird es auch weiter geben – die Logik des Kartells liegt gewissermaßen in der menschlichen Natur.
Die Kartellanten sind sich der Gefahr hoher Bußgelder durchaus bewusst. Aber aus ihrer Sicht handeln sie rational; sie versuchen durch die Teilnahme an einem Kartell ihr Unternehmen zu „retten“. Das ist sozusagen ihre Strategie gegen eine subjektiv als ausweglos wahrgenommenen Situation. Und schließlich fliegt ja nicht jedes Kartell auf…
Aber ganz wehrlos sind die Compliance Officer dennoch nicht: Sie müssen die Augen offen halten und sensibel sein für politische Entwicklungen sowie für die Entwicklung der eigenen Branche und des Marktumfeldes.