Herr Dr. Makatsch, in der Presse liest man derzeit Abenteuerliches über die Deutsche Bahn, sie würde die Kartellanten „jagen“. Das hört sich nach Selbstjustiz an. Das ist von Ihnen sicherlich nicht so gemeint. Was machen Sie wirklich?
Dr. Tilmann Makatsch: Das ist in der Tat absolut nicht so gemeint! Wir sehen uns nicht als Konkurrenzveranstaltung zu Kartellbehörden. Sondern wir arbeiten parallel zu ihnen und miteinander. Wir setzen im Grunde da an, wo die Behörden aufhören. Wir schauen, wo es Bußgeldverfahren, Hausdurchsuchungen, Entscheidungen von Wettbewerbsbehörden und Ähnliches gibt. Und untersuchen in einem aufwendigen internen Prozess, inwieweit der DB-Konzern von möglichen wettbewerbswidrigen Absprachen betroffen ist. Zum Beispiel, ob wir im potentiellen Kartellzeitraum kartellierte Produkte oder Dienstleistungen bei den beteiligten Unternehmen eingekauft haben? Wenn ja, in welchem Umfang und Volumen fand dies statt. Das heißt, wir sind natürlich auch auf die Erfolge der Behörden angewiesen bei der Kartellbekämpfung. Denn die Zivilgerichte sind ja bekanntlich an die Feststellungen der Kartellbehörden gebunden.
Das bedeutet, Sie werden ausschließlich nach einer Entscheidung der Kartellbehörden aktiv?
Nein, nicht ausschließlich. Unser ursprünglicher Ansatz waren die so genannten follow-on-Claims. Allerdings versuchen wir zunehmend, uns vorbeugend gegen etwaige Schädigungen durch Kartelle zu schützen. Insbesondere haben wir unsere Früherkennungssysteme weiterentwickelt und können auffälliges Bieterverhalten oder andere Unregelmäßigkeiten immer besser identifizieren. Um das zu standardisieren, hat die DB als eines der ersten deutschen Unternehmen ein Kartellschadenspräventionssystem entwickelt. Ziel des Systems ist es, das Risiko des Konzerns, Opfer von Kartellabsprachen zu werden, zu minimieren. In einem aktuellen Fall haben wir Verdachtsmomente in einer Ausschreibung zum Anlass für eine Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft genommen, die daraufhin Durchsuchungen durchgeführt und Verfahren eingeleitet hat. Sollte es hierzu eine Entscheidung geben, werden wir hierauf mit der Durchsetzung unserer Kartellschadensersatzansprüche reagieren.
Wo genau ist Ihre Abteilung in der internen Hierarchie angeordnet und mit welcher Mannschaftsstärke machen Sie das?
Wir haben bereits 2009 angefangen, intensiv an dem Thema Kartellschadensersatz zu arbeiten und Prozesse im Konzern aufzusetzen. Als eigene Einheit innerhalb des Rechtsbereichs gibt es uns seit einem Jahr. Die Abteilung nennt sich „Kartellrecht Schadensersatz“ und ist Teil der Kartell- und Wettbewerbsrechtsabteilung. Derzeit sind wir fünf Juristen, ab Januar 2015 verstärkt uns ein Wettbewerbsökonom. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Juristen nicht das Know-how haben, mit großen Datenmengen umzugehen und komplexe Schadensanalysen zu erstellen.
Wie gehen Sie vor, wenn Sie Unregelmäßigkeiten feststellen?
Das ist sehr individuell. Unser Vorgehen orientiert sich trotz klarer Prozesse sehr am konkreten Einzelfall und den vorliegenden Anzeichen. In der Regel beginnen wir mit einer sorgfältigen Analyse des entsprechenden Sachverhalts, beispielsweise durch eine Auswertung aller Angebote der entsprechenden Ausschreibung, eine Berücksichtigung der Marktbedingungen oder auch des im Vorfeld der Ausschreibung erwarteten Preisniveaus. Im Anschluss prüfen wir, ob sich die ursprünglichen Verdachtsmomente unter Berücksichtigung des Sachverhalts weiter verdichten oder auf andere Erklärungen zurückzuführen sind. Wenn wir dabei belastbare Anzeichen für Kartellverstöße erkennen, binden wir die Kartell- und Ermittlungsbehörden ein. Von dieser Möglichkeit haben wir auch bereits Gebrauch gemacht. In anderen Fällen, insbesondere bei der Bewertung der Zulässigkeit von Arbeits- oder Bietergemeinschaften kann es sich anbieten, unmittelbar auf die betreffenden Unternehmen zuzugehen und diese um zusätzliche Erläuterungen zu bitten. Ähnlich wie bei der Schadensanalyse, ist hier ist eine Menge Dokumenten- und Datenarbeit erforderlich.
Woran genau merken Sie, dass etwas nicht stimmt?
Auffällig ist beispielsweise, wenn Preise mehrerer Lieferanten des DB-Konzerns über einen längeren Zeitraum gleichbleiben oder die Preise sich gleichzeitig oder gleichförmig erhöhen. Diese Auffälligkeiten können jedoch auch andere Ursachen haben, das heißt sie sind nicht zwingend Indikatoren für ein unzulässiges Verhalten. Dies macht die Bewertung im Einzelfall schwierig und aufwendig. Wenn bei Neuausschreibungen die Zahl der Bieter abnimmt und die früheren Bieter in immer größeren Argen auftreten, schauen wir uns das genauer an.
Darüber hinaus können Auffälligkeiten auch durch die Analyse von Märkten mittels ökonomischer Kriterien identifiziert werden. Bei der DB nutzen wir entsprechende Methoden bereits, um Märkte mit Kartellneigung zu identifizieren, auf denen wir unsere Lieferanten dann zu zusätzlichen Compliance-Standards verpflichten.
Welche Anreize setzen Sie den potenziellen Kartellanten, damit sie mit Ihnen kooperieren?
Der Hauptanreiz ist, dass diese Lieferanten weiterhin Geschäfte mit der Deutschen Bahn machen können. Wenn bei einem Unternehmen ein Kartellverstoß festgestellt wurde, überprüfen wir, ob es einen erfolgreichen Selbstreinigungsprozess durchlaufen hat. Dazu gehören die interne Aufarbeitung des Kartells einschließlich einer transparenten Mitwirkung an der Aufklärung, die Bereitschaft zur Schadenswiedergutmachung sowie ein effizientes Compliance-System. Wir erwarten aber auch nachvollziehbare personelle Konsequenzen für Mitarbeiter, die nachweislich an dem Kartellverstoß beteiligt waren. Und wenn wir feststellen, dass das alles nicht passiert ist, werden wir sehr genau prüfen, Kartellanten von konkreten Vergabeverfahren auszuschließen oder sogar zu sperren.
Sie meinen, Sie haben eine Blacklist?
Ich würde es nicht Blacklist nennen. Wir nutzen vergaberechtliche Spielräume, um sicher zu sein, dass wir unsere Geschäfte nur mit zuverlässigen Vertragspartnern machen. Außerdem haben wir eine Art DB-eigenes Kronzeugenprogramm entwickelt. Kartellanten, die mit uns kooperieren und uns Informationen zur Verfügung stellen sowie bereit sind, die verursachten Schäden wiedergutzumachen, bekommen Abschläge beim Schadensausausgleich. Es ist im Grunde vergleichbar mit dem Kronzeugenverfahren von Kartellbehörden, aber es wird kein am Kartell beteiligtes Unternehmen geben, das wir völlig aus der Pflicht zur Wiedergutmachung des Schadens entlassen.
Sie beobachten das Verhalten der Kartellanten. Welche Entwicklungen haben Sie bei ihnen über die Jahre festgestellt?
Genauso wie bei uns, haben auch bei den Kartellanten gewisse Lernprozesse stattgefunden. In einem Fall haben wir im Jahr 2010 Schreiben an kartellbeteiligte Unternehmen versendet, mit der Aufforderung, mit uns in den Dialog zu treten und über Schadenswiedergutmachung zu sprechen. Damals wurden wir einfach ignoriert. Inzwischen kommen Unternehmen sogar unaufgefordert auf uns zu und berichten, dass sie Wettbewerbsverstöße festgestellt haben und mögliche Schäden wiedergutmachen möchten. Das zeigt einen Kulturwandel, und wir waren positiv überrascht, wie schnell sich dieser bei einigen Kartellanten vollzieht. Sie nehmen uns jetzt ernst.
Was mich dagegen stört, sind Lieferanten, die mit den Kartellbehörden zwar kooperieren und dort nach intensiven eigenen Ermittlungen alles offen legen, dann aber zu ihren eigenen Kunden sagen „Wenn Ihr glaubt, durch das Kartell geschädigt worden zu sein, dann verklagt uns doch!“. Das ist etwas, was ich kaufmännisch nicht verstehe. Denn das Wichtigste eines Lieferanten sollten doch dessen Kunden sein oder? Wir versuchen tatsächlich darauf hinzuwirken, dass diese unverständliche Haltung weiterhin abnimmt.
Und was hat sich bei Ihnen intern weiterentwickelt?
Ein wichtiger Schritt war, die internen Prozesse für derartige Fälle zu erarbeiten und zu etablieren. Wir arbeiten sehr eng mit unseren Abteilungen Einkauf, Controlling und Vergaberecht zusammen. Dabei nutzen wir Datenbanken und andere Tools, so dass wir diese Fälle inzwischen sehr schnell aufbereiten können.
Als wir unsere Arbeit aufgenommen haben, und auf die operativen Geschäftsfelder zugegangen sind, hörten wir oft, dass man schon zu uns käme, wenn unser Rat gebraucht würde. Heute ist das ganz anders. Aus meiner Sicht kann sich ein moderner Unternehmensjurist heute nicht allein darauf beschränken, auf Risiken hinzuweisen und rechtliche Arbeitsaufträge abzuarbeiten. Gerade als Kartellrechtler muss man aufpassen, nicht als „Bedenkenträger“ wahrgenommen zu werden, der unternehmerische Handlungsmöglichkeiten einschränkt und dabei hohe Kosten verursacht, sondern als Partner, die Chancen öffnen und erfolgreich nutzen. Über das Thema Kartellschadensersatz haben wir die Möglichkeit, als unternehmerisch denkende Juristen Chancen zu erkennen, proaktiv Prozesse im Konzern aufzusetzen und zu steuern sowie Erträge für den Konzern zu generieren. Plötzlich wandeln sie sich zum Profit Center. Spätestens, wenn die ersten Millionenbeträge aus Rückforderungen eingehen, ist allen klar, das war nicht nur heiße Luft, da steckt auch wirklich was dahinter.
Wie führen Sie Ihre Abteilung und wie motivieren Sie?
Das Thema Kartellschadensersatz motiviert, weil es unglaublich faszinierend ist. Sie gehen nicht auf ausgetretenen Pfaden, sondern es gibt noch jede Menge offener Rechtsfragen. Was die Motivation der Kollegen angeht, halte ich es für wichtig, ihnen Verantwortung zu übergeben, sie selbst an wichtigen Terminen teilnehmen zu lassen und Fälle – einschließlich möglicher Erfolge – nach innen und nach außen selbst zu vertreten.
Die Deutsche Bahn hat als Geschäftspartner eine bestimmte Einkaufsmacht. Was würden Sie den kleinen und mittleren Unternehmen raten, die diese Einkaufsmacht nicht haben? Welche Anreize sollen sie setzen, um Kartelle gar nicht erst entstehen zu lassen?
Es scheint sich ein Marktstandard zu etablieren, nach dem ein pauschalierter Schadensersatzes von 15 Prozent für alle Kartellverstöße in den AGB verankert wird. Ein niedrigerer Schaden müsste durch die Kartellanten nachgewiesen werden. Wenn die Durchsetzung von Kartellschadensersatz durch eine Beweislastumkehr erleichtert wird, könnte das auch kleineren und mittleren Unternehmen helfen, Schadenersatz aus Kartellen leichter realisieren zu können. Denn eine Schadensanalyse ist sehr aufwendig, komplex und kostenintensiv.
Was die gerichtliche Durchsetzung von Ansprüchen angeht, ist es oft sinnvoll, wenn sich Geschädigte zusammentun, entweder in Streitgenossenschaften, durch Abtretungsmodelle oder über die Finanzierung durch Dritte. Denn so ein Kartellschadensersatzverfahren ist extrem arbeitsaufwendig und kostenintensiv. Allein das Prozesskostenrisiko beläuft sich ja schon auf mehrere Millionen, wenn es durch drei Instanzen geht. Dazu kommen eigene Kosten und Gerichtskosten. Das können große Unternehmen alleine stemmen, möglicherweise aber nicht mehr mittlere und kleinere Unternehmen.