Im Netz des verdienten Vertrauens

Auszug aus The Stanford Closer Look Series

Berkshire Hathaways Vize-Vorsitzender Charlie Munger ist nicht nur als Partner von CEO Warren Buffett bekannt, sondern auch für seine Befürwortung „multidisziplinären Denkens“ – der Anwendung von fundamentalen Konzepten verschiedenster akademischer Gebiete, um komplexe Probleme zu lösen. Eines dieser Probleme, welche Munger über die Jahre angesprochen hat, ist das optimale System der Corporate Governance. Wie sollte ein Unternehmen strukturiert sein, um ethisch-orientiertes Verhalten unter den Mitwirkenden einer Organisation zu stärken und im Interesse der Teilhaber zu Entscheidungen zu motivieren?

Verglichen mit den Standards der heutigen Unternehmungsführung ist seine Lösung unkonventionell und steht zum Teil im Konflikt mit den existierenden Regelwerken. Die Einsichten, die Munger uns bietet, repräsentieren dennoch einen Kontrast zu den heutigen „Best Practices“. Sie bieten interessante alternative Lösungen zur Verbesserung von Unternehmensleistung und der Handlungsweise der Geschäftsführung.

Vertrauensbasierte Leitung

Die Grundlage eines Governance-Systems basiert auf der Annahme, dass Mitarbeiter einer Firma eigennützig agieren und aus diesem Grund bereit sind, auf Kosten der eigentlichen Firmeninteressen ihren eigenen Interessen nachzugehen. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, haben die Unternehmen eine Reihe von Anreizmechanismen (Zuckerbrot und Peitsche) eingeführt. Die Anreize können finanzieller Natur sein, zum Beispiel leistungsbasierte Entlohnungen, welche die finanziellen Interessen von Geschäftsführung und Teilhabern auf eine Linie bringen. Sie können aber auch von unternehmenskultureller Natur sein und zum Beispiel auf Normen basieren, die bestimmtes Verhalten fördern sollen. Die Sanktionen enthalten Methoden und Prozeduren, um rechtswidriges Verhalten zu begrenzen, sowie Mechanismen zur Überprüfung von Entscheidungen des Unternehmensvorstands.

Die meisten großen Unternehmen haben Governance-Systeme eingeführt, die weitreichende Anreize und Sanktionen beinhalten. Dazu gehören unter anderem: Ein unabhängiger Ausschuss zur Kontrolle der Betriebsführung, eine interne Prüfungsabteilung, ein Compliance– und Risikomanagementbereich, sowie genau durchdachte Vereinbarungen zu Vergütungen der Firmenleitung. Charlie Munger vertritt jedoch die Meinung, dass ein solches System nicht für alle Unternehmen gleichermaßen funktionieren kann: „‘Eine Lösung für alles‘ ist nicht der richtige Weg. All diese Unternehmenskulturen unterscheiden sich. Die Kultur, die für Mayo Clinic passend ist, passt nicht für Hollywood Filmstudios. Man kann all diese Unternehmen nicht mit einer schablonenhaften Herangehensweise überziehen.“

Er betont, dass viele erfolgreiche Organisationen (zum Beispiel Berkshire Hathaway) mit dem Konzept „weniger statt mehr Kontrolle“ arbeiten. „Viele Leute denken, dass die besten Ergebnisse dann geliefert werden, je mehr Prozesse da sind, die einzuhalten wären und je mehr Compliance im Unternehmen vorhanden ist, dazu noch viele Überprüfungen. Nun, bei Berkshire gibt es solche Prozesse so gut wie gar nicht. Wir hatten kaum internes Audit, bis es uns aufgezwungen wurde. Wir versuchen in einem nahtlosen Netz aus ‚verdientem Vertrauen‘ zu operieren. Wir passen aber auf, wem wir vertrauen.“

Nach Munger ist dieses nahtlose Netz aus „verdientem Vertrauen die richtige, höchste und beste Unternehmenskultur.“ Ein vertrauensbasiertes System erlaubt es dem Einzelnen, ohne ausufernde Kontrollen zu agieren und schont dabei Zeit und Kosten, die bei der eigenen Überwachung oder der Überwachung anderer verschwendet werden.

Daher ist ein vertrauensbasiertes System effizienter als ein Compliance-basiertes System, jedoch nur, wenn eigennütziges Verhalten unter den Angestellten und dem Vorstand gering ist. Munger dazu: „Ein guter Charakter ist sehr effizient. Wenn du Menschen vertrauen kannst, kann dein System sehr viel einfacher sein. In einem guten Charakter steckt also enorm viel Effizienz, während ein schlechter Charakter ineffizient ist.“

Leistungsfähiger CEO

Der Dreh- und Angelpunkt eines vertrauensbasierten Systems ist die Wahl des Geschäftsführers. Ein CEO von hoher Kompetenz und einwandfreier Integrität benötigt keine ausgedehnte Überwachung und man kann sich darauf verlassen, dass er korrekte (rationale) Entscheidungen im langfristigen Interesse der Organisation trifft. Munger: „Wir wollen sehr gute Führungskräfte, die viel Macht haben und denen wir viel Macht anvertrauen können.“  …  „Ich mag Unternehmensstrukturen, wo gute Leute viel Macht erhalten und diese auf richtige Art ausüben.“

Aus einem theoretischen Blickwinkel betrachtet, macht diese Herangehensweise viel Sinn: Eine Möglichkeit, die Agenturkosten eines Unternehmens zu senken, ist es jemanden einzustellen, dessen Charakter nachteilige Schritte für die Anteilseigner unwahrscheinlich macht. Das Risiko dabei ist, dass das Board die Fähigkeit und Integrität des Vorstands nicht richtig einschätzt und den falschen CEO wählt.

Laut Munger sollte der CEO, sobald gewählt, unbedingt dazu ermutigt werden, Entscheidungen ohne umfangreiche Prüfungen durch die Vorstandskollegen zu treffen. Er führt das Beispiel von Warren Buffett an: „Wenn man ein wirklich komplexes Unternehmen hat, aber dazu einen guten CEO, will man, dass er das Unternehmen beim Umgang mit Außenstehenden überzeugend vertritt … Natürlich wurde Berkshire Hathaway so aufgebaut. Können Sie sich Warren Buffett vorstellen, wie er zu jemandem sagt: „Es tut mir leid, aber ich muss das zuerst mit meinen Vorstandskollegen besprechen?“ Natürlich muss er dies als erstes tun. Aber jeder weiß, was sie sagen werden und jeder weiß auch, dass sein Wort eigentlich entscheiden wird.“

Verantwortungsvolle ­U­nternehmenskultur

Der zweite Hauptbestandteil eines vertrauensbasierten Systems ist die Entwicklung und Erhaltung einer Unternehmenskultur, die verantwortungsvolles Verhalten fördert. „Die Menschen werden sich jedem Unternehmensethos anpassen, der die Umgebung beherrscht“, so Munger. Dies trifft auf jeden Angestellten zu, vom CEO bis hinunter zu den Sachbearbeitern. Verschiedene Komponenten innerhalb des Unternehmens tragen zu einer verantwortungsvollen Unternehmenskultur bei:

Verantwortlichkeit

Munger zitiert den früheren Professor für Philosophie an der Columbia Universität Charles Frankel, der annahm: „Wirklich verantwortungsvolle, verlässliche Unternehmenssysteme müssen so gestaltet werden, dass Personen, die Entscheidungen treffen, auch ihre Konsequenzen tragen müssen. Nach Frankel ist ein System proportional verantwortungsvoll zu dem Grad, bei dem der Einzelne mit den Konsequenzen seiner Entscheidungen leben muss. Also wie das Konzept, das die Römer verfolgten – wenn man eine Brücke errichtet hatte, mussten die Architekten unter ihr stehen, wenn das Baugerüst entfernt wurde. Oder, in der vtruppe packt man seinen Fallschirm selbst. Diese Systeme funktionieren sehr gut. Im Gegensatz dazu steht ein Unternehmen, das nur während der fünf Jahre gut funktioniert, in denen der CEO da ist, nach seinem Weggang aber nicht mehr. (Damit ist klar:) Dieser CEO arbeitete nicht verantwortungsvoll.“

Grundkontrollen

Ein Unternehmen sollte Gelegenheiten beseitigen, die es den Mitarbeitern leicht machen, sich eigennützig zu verhalten: „Ein großer Teil der Menschen würde stehlen, wenn es (A) sehr einfach wäre und es (B) praktisch keine Aussicht auf eine Strafverfolgung gibt. Sobald sie anfingen, würde sich das Prinzip der kognitiven Konsistenz – ein wesentlicher Teil der menschlichen Psychologie – mit dem Prinzip der operanten Konditionierung kombinieren, um das Stehlen zur Gewohnheit zu machen. Wenn man also ein Unternehmen führt, in dem das Stehlen aufgrund der Unternehmensstruktur leicht möglich ist, schadet man seinen Mitarbeitern moralisch. Es ist sehr wichtig, ein auf menschlicher Psychologie basierendes System aufzubauen, das schwer zu umgehen ist.“ Munger nennt daher Systeme, die Betrug leicht ermöglichen „pervers“. „Ein System ist pervers, wenn gute Menschen durch die Systemstruktur dazu verleitet werden, Schlechtes zu tun. Wenn man eine große Kette von Läden betreibt und Schlamperei es einfach macht, zu stehlen, werden eine Menge guter Menschen Schlechtes tun. Man wird ein verantwortungsloses System schaffen.“

Konservative Bilanzierung

Eine konservative Bilanzierung verschafft den Investoren und dem Management Sicherheit darüber, dass die Unternehmensleistung exakt so gut ist, wie sie in der Finanzberichterstattung dokumentiert ist. Munger dazu: „Die Verbindlichkeiten sind immer 100% korrekt. Es sind die Assets, um die man sich Sorgen machen muss.“ Aggressive Bilanzierung führt zu aggressiven Methoden wie zum Beispiel die Überbewertung von Einkünften, der Unterschätzung des Risikovorsorgebedarfs, Wertberichtigungen auf Forderungen der Reserveschätzungen und andere Bilanzierungsarten, die das Jahresnettoeinkommen aufblähen. „99 Prozent der Probleme unserer Unternehmenszivilisation entstehen durch eine zu optimistische Bilanzierung. Trotzdem schenken diese verdammten Buchhalter mit ihrem Verlangen nach mathematischer Reinheit Abrechnungen, die zu pessimistisch sind, genau so viel Beachtung wie denen, die zu optimistisch sind – was verrückt ist. 99 Prozent der Probleme kommen durch zu viel Optimismus. Deswegen sollten wir ein System haben, das die Bilanzierung konservativer gestaltet.“

Zurückhaltende Führungskräftevergütung

Munger schlägt ebenfalls vor, dass CEOs zurückhaltender vergütet werden sollten, sobald sie einen angemessenen Wohlstand erreicht haben: „Die Leute  sollten viel weniger erhalten, als sie wert sind, wenn sie ohnehin vom Leben begünstigt wurden.“ Und weiter: „Ich würde behaupten, man ist moralisch verpflichtet, unterbezahlt zu sein, wenn man im US-amerikanischen Wirtschaftsleben hoch genug aufgestiegen ist – nicht alles zu bekommen, was möglich ist, sondern einfach um unterbezahlt zu sein.“

Als Beispiel nennt er die US-amerikanische Großhandelskette Costco, wo Munger Mitglied im Vorstandsvergütungsausschuss ist. Der ehemalige CEO James Sinegal forderte immer eine Entschädigung unterhalb seiner Vergleichsgruppe. „Es spricht viel für die Leute, die die Kraft haben, auf eine Position zu kommen, auf der sie ihr Geld zusammen mit den Anteilseignern machen und nicht unabhängig von ihnen.“ Er fügt hinzu: „Der US-amerikanische Industrielle und Stahl-Tycoon Carnegie war schon immer stolz darauf, dass er den Großteil seines Vermögens außerhalb seines Unternehmens Carnegie Steel verdient hatte, während er kein Gehalt vom Unternehmen annahm. John D. Rockefeller I.  nahm praktisch kein  Gehalt an. Über die Jahre rühmte sich Cornelius Vanderbilt häufig damit, dass er von seiner Dividende lebte und kein Gehalt annahm. In ihrer Epoche war das eine verbreitete Unternehmenskultur. All diese Leute hatten die Gründerpsychologie – und vielleicht beeinflusste genau das Warren.“

Zurückhaltende Aufsichtsratsvergütung

Gleichermaßen behauptet Munger, dass die zurückhaltende Aufsichtsratsvergütung im Einklang mit ihren unabhängigen Urteilen steht, welche von den Aufsichtsräten erwartet werden. Er zitiert ein ehemaliges U.S. Regierungsmitglied: „ ,Keiner ist dazu geeignet, sein Amt zu führen, wenn er nicht absolut dazu bereit ist, dieses jederzeit zu verlassen.‘… Ich finde, das sollte öfter der Test für einen Aufsichtsratsposten sein. Ist jemand wirklich dazu geeignet, schwierige Entscheidungen zu treffen, wenn er nicht jederzeit bereit wäre, sein Amt zu verlassen? Ich denke nicht.“ Damit einhergehend erhalten Berkshire Hathaway Aufsichtsräte eine jährliche Vergütung von gerade einmal 1.800 bis zu 5.600 US-Dollar, verglichen mit den 229.000 US-Dollar in einem mittelständischen Unternehmen. Bescheidene Aufsichtsratsvergütungen könnten auch helfen, den Vergütungsrahmen von Vorständen zu dämpfen: „Je mehr du den Aufsichtsräten bezahlst, desto mehr werden sie dem CEO bezahlen. Die einfachen Regeln der Sozialpsychologie definiert dieses Ergebnis.“

Zum Schluss empfiehlt Munger, dass Unternehmungssysteme Einfachheit pflegen sollten: „Einer der besten Wege, Ärger aus dem Weg zu gehen, ist es, alles einfach zu halten. Wenn man es erheblich komplizierter macht, gerät das System außer Kontrolle.“ Munger sagte einmal in einer Rede an der Law School der University of Southern California: „Den letzten Gedanken, den ich Ihnen auf dem Weg zu einem Beruf, der häufig viele verschiedene Prozesse, viele Vorsichtsmaßnahmen und viel Brimborium enthält, geben will ist: Das was Ihr tut, ist nicht die höchste Form, die eine Unternehmenszivilisation erreichen kann. Die höchste Form, die eine Unternehmenszivilisation erreichen kann, ist ein nahtloses Netz aus verdientem Vertrauen – keine unnötigen Prozeduren, nur absolut zuverlässige Personen, die sich absolut gegenseitig vertrauen.

Auf diese Weise funktioniert ein Operationssaal in der Mayo Clinic. Wenn ein Haufen von Anwälten massiv Verfahren einleiten würde, stürben alle Patienten. Vergessen sie also nie, wären sie ein Anwalt, könnten sie dafür belohnt werden, das alles an den Mann zu bringen, aber sie selbst müssten nicht daran glauben. Alles was Sie in Ihrem Leben brauchen, ist ein nahtloses Netz aus verdientem Vertrauen. Und wenn Ihr Ehevertrag 47 Seiten hat, würde ich ihnen empfehlen, die Ehe nicht einzugehen.“

Warum das wichtig ist

1.            In den letzten Jahren wurden Governance-Systeme immer aufwendiger, so dass sie eine lange Liste bestehend aus regulären Vorgehensweisen und „Best Practices“ aufwiesen. Jedoch befürwortet Charlie Munger eine Vereinfachung und Verringerung der Prozesse, eine verantwortungsbewusste Unternehmensführung und eine entsprechende Unternehmenskultur. Würde das System, das Munger beschreibt, in einem durchschnittlichen Unternehmen funktionieren? Wie würden Unternehmenslenker diese implementieren?

2.            Das vertrauensbasierte System, welches Munger befürwortet, würde „exzessive“ und bürokratische Kontrollen eliminieren, aber „notwendige“ Prozesse zur Verringerung eigennützigen Verhaltens der Angestellten beibehalten. Welche Praktiken in großen Unternehmen sind heutzutage notwendig und welche sind übertrieben?

3.            Das vertrauensbasierte System, auf welches sich Munger bezieht, tendiert dazu, eher für ein durch den Gründer / Eigentümer geleitetes Unternehmen geeignet zu sein. Wie viel des Erfolgs ist auf die Führungsqualitäten des Gründers zurückzuführen, und wie viel auf die Unternehmenskultur, die von ihm oder ihr kreiert wurde? Können diese getrennt werden? Wie kann ein Unternehmen sicherstellen, dass die Unternehmenskultur weiterlebt, wenn es eine spätere Nachfolge des Gründers gibt?

Der Artikel wurde im März 2014 in The Stanford Closer Look Series veröffentlicht, einer Sammlung von kurzen Fallstudien, welche Themen, Probleme und Streitigkeiten in Corporate Governance und Mitarbeiterführung erforschen. Co-Autor ist Brian Tayan.

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