Warum funktionieren unsere Compliance-Systeme nicht? Seit Bekanntwerden des VW-Dieselskandals stellt Prof. Stephan Grüninger, Leiter des Konstanz Institute for Corporate Governance, diese Frage regelmäßig, wenn er über den Stand der Dinge von Compliance spricht und schreibt. In der aktuellen Debatte um die Wirksamkeit von Compliance-Systeme schließt sich notwendigerweise eine zweite Frage gleich an: Wie und an was wird eigentlich gemessen, ob und wann ein Compliance-System erfolgreich ist? Die einfachste Antwort darauf lautet: Wenn alles dauerhaft mit rechten Dingen zugeht. Aber so einfach ist das nicht.
Ein großer Teil der bei den existierenden Compliance-Systemen herangezogenen quantitativen Messparameter sagt über deren Wirksamkeit und Erfolg soviel aus wie der nach EU-Norm gemessene Durchschnittsverbrauch eines Dieselmotors über die tatsächliche Menge des bei Normalbetrieb durch die Ventile geblasenen Sprits. Damit lässt sich alles Mögliche messen, nur nicht der Zusammenhang zwischen Werte- und Regelsystemen einerseits und den tatsächlich herrschenden Kulturen in Organisationen andererseits.
In der von der Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers gemeinsam mit Prof Dr. Kai-D. Bussmann von der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg 2010 herausgegeben Studie „Compliance und Unternehmenskultur“ kommen die Verfasser zu einer zentralen Schlussfolgerung: „Compliance-Programme und auch Hinweisgebersysteme haben (…) kaum Wirkung, wenn die herrschenden Normen im Unternehmen dem widersprechen“.
Wenn wir über „herrschende Normen“ sprechen, sind damit die formellen, vor allem aber auch die informellen Normen gemeint. Selbstverständlich ist Voraussetzung für die Wirksamkeit von Compliance, dass der „Tone from the Top“ stimmt und die richtigen Werte und Regeln gesetzt und implementiert sind. Genauso wichtig, vielleicht sogar noch wichtiger, ist es allerdings, dass Regeltreue auch als informelle Norm in einer Organisation und ihren Verästelungen vorherrscht.
Wie misst man Haltung, wie Kultur, wie Integrität?
Die Durchdringung der Organisation ist nach wie vor eine große Herausforderung für die Compliance. Nicht nur im Sinne der horizontalen Lagen und Strukturen, sondern vor allem der informellen und damit auch vertikalen Kulturen. Der Zusammenhang zwischen formellen und informellen Parametern und Prozessen ist für die professionelle Kommunikation längst ein zentraler Hebel zur Veränderungen von Erkenntnissen, Einstellungen und Verhaltensweisen von Menschen in Organisationen. Im Bereich der Compliance sind die damit zwingend einhergehenden Analysen, Strategien und Interventionen, mit Verlaub, immer noch Randaspekte.
Die möglichst valide Kenntnis der kulturstiftenden Interpendenzen formeller und informeller Strukturen, Verhaltens- und Wertemuster jedoch sind für die Wirksamkeit von Compliance-Maßnahmen von entscheidender Bedeutung. Und nur wer sie kennt, kann sie auch messen und beurteilen und daraus die notwendigen Schlüsse ziehen.
Qualitative Kommunikationsforschung und Compliance
Zur Analyse von Unternehmenskulturen greift die Kommunikationsforschung auf das etablierte Instrument der qualitativen Multiplikatorenbefragung zurück. Das Verfahren schafft eine fundierte Bewertungsgrundlage zur Entwicklung einer wirksamen und maßgeschneiderten Kommunikationsstrategie. Dabei reichen die Befunde weit über die quantitativ zählbare Faktenlage hinaus. Sie vermitteln ein tiefgreifendes Verständnis für die komplexen individuellen Zusammenhänge, Wirkungsmuster und Beeinflussungsfaktoren von werte- und regeltreuem Verhalten.
Eine qualitative Kulturanalyse ist schon vor Einführung eines CMS eigentlich unverzichtbar, sie kann natürlich auch „on the go“ vorgenommen werden, um die bestehenden Systeme zu optimieren, zentrale Anpassungen vorzunehmen oder einen „Relaunch“ einzuleiten. Zentrale Fragestellungen lauten dabei:
- Problembewusstsein: Gelten Regelverstöße im Unternehmen als Ausnahme – oder Regel? Welche (formellen und informellen) Regelverstöße werden überhaut als Problem wahrgenommen? Erleben die Mitarbeiter Compliance-Risiken als Gefahr für das Unternehmen, die Geschäftsentwicklung, ihren Arbeitsplatz?
- Soziale Kontrolle: Welche formellen und insbesondere informellen Systeme der sozialen Kontrolle haben sich im Unternehmen etabliert? Wissen die Mitarbeiter, wo die rechtliche Grenze verläuft, und wie verhalten Sie sich im Alltag? Gibt es eine Kultur des Hinschauens oder Wegschauens? Herrscht gar „Sittenverfall“ oder einfach nur Orientierungslosigkeit?
- Kritikfähigkeit: Kann Compliance auf einem gelebten kritischen Miteinander aufbauen? Ist die kritische Auseinandersetzung unter Kollegen, zwischen Führungskräften und Mitarbeitern, eine gelebte Praxis? Gibt es eine vertrauensvolle Basis für derart schwierige Dialoge, oder herrscht im Unternehmen eine „Angstkultur“, „Spitzeltum“ oder auch „Wegducken“ vor?
Konsequenzen für die Compliance-Organisation
Für die Erhebung und Analyse vor allem informeller Wirkungsfaktoren können die Compliance-Organisationen von der Kommunikation, übrigens auch von den Personalabteilungen, noch eine Menge lernen. Damit erst werden belastbare Grundlagen geschaffen für wirksame, auf die jeweilige Organisation und ihre Eigenheiten passenden Strategien, Methoden und Instrumente zur Vermittlung und Verankerung von Werten und Regeln – und deren Wirkungskontrolle.
Das gilt umso mehr, folgt man den Schlussfolgerungen aus der Wissenschaft. Prof. Josef Wieland von der Zeppelin Universität Friedrichshafen formulierte es unlängst in einem Vortrag mit dem Titel „ Wie sieht die Compliance in den nächsten fünf Jahren aus?“ sinngemäß so: Compliance war gestern, ab heute lautet die eigentliche Herausforderung „Integrity Management“.
Angesichts der jüngsten Compliance-Skandale, die nahezu ausnahmslos trotz der Existenz ausgefeilter Compliance-System, bleibt der Compliance demnach nur eine Konsequenz: Sie muss noch viel mehr zum integrierten Teil und aktiven Träger der Management- und Organisationskultur werden, viel mehr, als sie sich das bisher vorgestellt hat.
Der Text ist eine stark gekürzte Version des Artikels „Ist Integrität messbar?“, erschienen in der Fachzeitschrift Corporate Compliance Zeitschrift (CCZ), Ausgabe vom 15. November 2016.
Hartwin Möhrle hat zu dem Thema auch auf dem diesjährigen Bundeskongress Compliance Management des BCM referiert.