Kartellschadensersatz in der Unternehmenspraxis

Compliance Management

Kartellfälle und daraus resultierende Schadensersatzklagen sind nicht erst seit diesen Tagen häufiges Thema. Doch mit der EU-Kartellschadensersatzrichtlinie kommt eine neue Dynamik, die für die Praxis mitunter juristisches Neuland bedeutet. Ein Überblick.

Kartellschadensersatzklagen sind in aller Munde und bestimmen die Schlagzeilen der Wirtschaftspresse. Mit der 9. GWB-Novelle von Juni 2017 wurden die Vorgaben der EU-Kartellschadensersatzrichtlinie 2014/104/EU in das deutsche Recht umgesetzt und ein neues „Sonderprivatrecht“ für kartellrechtliche Schadensersatzklagen geschaffen. Dabei enthalten die §§ 33 – 34a GWB die materiell-rechtlichen  Neuerungen, die §§ 87 – 89e GWB regeln die verfahrensrechtlichen Aspekte.

Die Gesetzesänderungen verfolgen das  Ziel, Kartellschadensersatzklagen  zu erleichtern. In der Praxis gibt es allerdings noch viele offene Fragen, da mit den neuen Gesetzesvorgaben  teilweise juristisches Neuland betreten wird. So bestand schon nach der alten Rechtslage keine gefestigte Rechtsprechung zu den Anspruchsvoraussetzungen. Nach der neuen Rechtslage gibt es aber bislang überhaupt keine aussagekräftigen Leitentscheidungen, insbesondere im Hinblick auf die Ermittlung der Schadenshöhe.

Der Kreis möglicher Anspruchsberechtigter auf Abnehmerseite ist weit gefasst. Neben den unmittelbaren Abnehmern eines Kartells können auch mittelbare Abnehmer und sogar Kunden von Kartellaußenseitern betroffen sein, wenn kartellbedingte Preiserhöhungen in der Lieferkette weitergereicht (sogenanntes Passing-on) oder Lieferanten im „Windschatten“ des Kartells die Preise erhöht haben (sogenannte Preisschirmeffekte). Instrumente  des kollektiven Rechtsschutzes sind aber auch nach der Gesetzesnovelle noch wenig ausgeprägt. Eine Sammelklage wurde nicht eingeführt. Die Bündelung von Schadensersatzansprüchen in einem Klagevehikel ist zwar möglich, aber rechtlich nicht unproblematisch.

In der Praxis sind Kartellbetroffenheit, Eintritt eines Schadens und Schadenshöhe die entscheidenden Streitpunkte. Neuerdings findet sich zwar eine – widerlegbare – Vermutung im Gesetz, dass den Abnehmern durch ein Kartell  ein Schaden entstanden  ist. Diese Vermutung gilt aber nur für das Bestehen eines Schadens dem Grunde nach, nicht für die Schadenshöhe. Der Kläger muss daher die Höhe seines Schadens vollumfänglich nachweisen beziehungsweise dem Gericht hinreichende Anknüpfungstatsachen für eine Schadensschätzung (§ 287 Abs. 1 ZPO) unterbreiten. Der Kläger muss zudem darlegen und beweisen, dass er vom Kartell betroffen ist, das heißt ein kartellbefangenes Produkt erworben oder geliefert hat.

Der Beklagte kann die Vermutung des Schadenseintritts unter anderem dadurch widerlegen, indem er beweist, dass die Kartellabsprache gar nicht erfolgreich umgesetzt wurde. Oder er kann sich auf das sogenannten Passing-on berufen, das heißt den Einwand der Weiterwälzung des kartellbedingten Preisaufschlags auf die Abnehmer des Klägers.

Sowohl die Ermittlung der Schadenshöhe als auch des Passing-on erfordern komplexe ökonomische Analysen, die ohne Zuhilfenahme von Sachverständigen kaum durchgeführt werden können. Dies führt zu regelrechten Gutachterschlachten. Hierbei ist eines der größten Probleme die ausreichende Datengrundlage. Kartellsachverhalte können mitunter Jahre oder Jahrzehnte zurückliegen. Aussagekräftige Unterlagen zu Belieferungs- und Beschaffungsvorgängen, zum Beispiel Kaufbelege oder Auftragsbestätigungen, sind oftmals gar nicht mehr oder nur unter erheblichem Aufwand verfügbar.

Zudem kann der Kläger häufig ohne Kenntnis der Kostenstrukturen und Preiskalkulation des Lieferanten den kartellbedingten Preisaufschlag schon gar nicht hinreichend beziffern und substantiieren. Diese für Kartellschadensersatzklagen typische „Informationsassymetrie“ adressieren die neuen Offenlegungsvorschriften. Sie geben einem Kartellgeschädigten einen materiellen Anspruch auf Offenlegung der relevanten Beweismittel im Besitz des Schädigers (oder eines Dritten). Aus Gründen der „Waffengleichheit“ kann aber auch ein Schädiger die Offenlegung derjenigen Beweismittel aus der Sphäre des Klägers verlangen, auf die er zur Verteidigung gegen den Schadensersatzanspruch angewiesen ist (insbesondere zum Passing-on). Wie mit diesen neuen Offenlegungsvorschriften in der Praxis umgegangen und eine unzulässige  Ausforschung (fishing expedition) vermieden werden kann, ist derzeit noch völlig offen.

Aus Beklagtenperspektive wird der gestiegenen Bedeutung von Schadensersatzklagen neben den präventiven Aspekten (Verstärkung von Compliance Bemühungen) auch in laufenden oder zukünftigen behördlichen Bußgeldverfahren Rechnung zu tragen sein. Hierbei wird ein kooperierendes Unternehmen berücksichtigen müssen, inwiefern eingereichte Unterlagen in nachfolgenden Schadensersatzverfahren von potentiellen Klägern eingesehen und verwendet werden können. Auch die einvernehmliche Verfahrensbeendigung – sogenanntes Settlement – und das Hinwirken auf einen inhaltsarmen Kurzbußgeldbescheid kann vor dem Hintergrund von Kartellschadensersatzklagen an Attraktivität gewinnen. Kartellbeteiligte werden sich auch Gedanken über die Sicherung etwaiger Regressansprüche im Innenverhältnis zu anderen Kartellbeteiligten machen müssen. Wie sich hier die gesetzgeberische Entscheidung auswirkt, dass der Kronzeuge gegenüber den anderen Kartellbeteiligten nur privilegiert haften soll, bleibt abzuwarten.

Für die Unternehmenspraxis folgt aus der zunehmenden Bedeutung von Kartellschadensersatzverfahren und der drohenden erheblichen finanziellen Auswirkungen einmal mehr, durch wirksame Compliance-Maßnahmen Kartellverstöße möglichst zu vermeiden. Zum anderen müssen sich Unternehmen überlegen, ob sie hinreichend aufgestellt sind, was die Identifizierung und Aufarbeitung möglicher Schadensersatzforderungen angeht. Dies kann die Implementierung eines unternehmenseigenen Monitoring-Prozesses beinhalten, um zu verhindern, dass etwaige Prüf- und Abwägungspflichten grob fahrlässig missachtet werden. Darüber hinaus kann es sich anbieten, frühzeitig einen Überblick über die Datenarchivierungsprozesse im Unternehmen zu erhalten und die Abstimmung mit den relevanten Stakeholdern (also beispielsweise dem Einkauf, der Finanzabteilung oder der Buchhaltung) zu suchen.

Aus Klägerperspektive sollten Unternehmen ein aktives Anspruchsmanagement unter Einbeziehung von Stakeholder und Schadensgutachtern in Erwägung ziehen, um mögliche Schadensersatzansprüche, insbesondere im Hinblick auf eine drohende Verjährung, frühzeitig zu sichern.

Auch wenn beim Thema Kartellschadensersatz derzeit noch vieles im Fluss ist, sollten Unternehmen die Analyse von Chancen und Risiken bereits jetzt in ihre internen Risiko-Management-Prozesse integrieren.

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