Ausgabe: 30 | 2022

WER WAR´S?

Unsere Wahrnehmung kann uns auch täuschen. Dieser „nette“ Effekt unserer Psyche ist schon seit langem bekannt, darüber gibt es mittlerweile auch Berge an wissenschaftlicher Literatur im Fach Psychologie. Von unserer Psyche ist es eigentlich lieb gemeint – sie ermöglicht uns ja damit, uns selbst eine eigene Wirklichkeit zu basteln, in der wir gut leben können. Schützt uns also davor, dass wir in Depressionen verfallen, weil die Wirklichkeit nicht so ist, wie wir sie gerne hätten.

Das ist gültig für alle Bereiche unseres Lebens, auch in unserem Beruf. Und in unserem Compliance-Beruf nahmen wir lange genug an, „alles Böse“ gehe vom Vertrieb aus. Vertrieb sei der wahre Quell der Kartelle. Diese Annahme ist für uns in gewisser Weise bequem: Der Vertrieb ist schließlich als Gruppe gut einkreisbar, und da die Vertriebsmitarbeiter sich auch in die jeweilige Unternehmenshierarchie einordnen müssen, macht sie das für uns „umgangsfähig“. Will heißen, wir wissen, was zu tun ist und welche Mittel wir dort anwenden müssen.

Doch dann kamen die kalten Zahlen – und zeigten uns, dass es überhaupt nicht immer der Vertrieb ist. Vor sieben Jahren habe ich in dieser Zeitschrift zum ersten Mal eine Kartellanalyse gemacht, und zwar für die Jahre 2004 bis einschließlich 2014 und für die beim Bundeskartellamt mit Geldbußen belegten Fälle (schauen Sie bitte dazu Heft 1/2015, Compliance Manager Magazin). Die Analyse zeigte eindeutig, dass der eigene Vorstand bzw. die eigene Geschäftsführung bei den Kartellen genauso eifrig mitmischt wie der Vertrieb. Mathematik hat also ihre Stärken, vor allem wenn es darum geht, ein Problem emotionslos und ungetrübten Blickes zu betrachten. Wenn man das denn will. Für so manchen Compliance Manager mag die Mathematik aber auch zum Kopfzerbrechen führen, denn wie soll man denn den Geschäftsführer einfangen? Was lässt sich denn der Vorstand von Ihnen sagen? Das ist dann plötzlich nicht mehr so einfach wie mit dem Vertrieb.

Für dieses Heft habe ich erneut eine Kartellanalyse durchgeführt, diesmal für die Jahrgänge 2015 bis einschließlich Februar 2022. Die Ergebnisse lesen Sie hier in der Titelstory. Selbstverständlich gibt es dazu wieder ausführliche Tabellen und Grafiken. Warum mache ich das? Die nackten Zahlen werden uns nicht den Grund des Problems erklären können, auf das Warum der Kartelle werden sie Ihnen also keine Antwort liefern. Aber sie helfen uns, unsere Ansichten zu korrigieren und unsere Compliance-Arbeit auf einer auf Erkenntnis basierenden Grundlage aufzubauen. Und eben nicht auf unbegründeten und subjektiven Annahmen. Ich hoffe, diese Kartellanalyse hilft Ihnen in Ihrer Arbeit.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine erkenntnisreiche Lektüre!

IHRE
IRINA JÄKEL
EDITOR IN CHIEF