Zum Neubürger-Urteil

Der Verfasser des Urteils, Helmut Krenek, im Interview

Herr Dr. Krenek, in Ihrem Urteil legen Sie dem Ex-Siemens-Vorstand Heinz-Joachim Neubürger zu Last, er hätte nicht dafür gesorgt, dass ein funktionierendes Compliance Management System (CMS) eingerichtet wurde. Lässt man dabei den Einwand des Beklagten beiseite, den Begriff Compliance habe es damals nicht gegeben, gilt dennoch: Neubürger hat Siemens 2006 verlassen. Darf man die heute geltenden Maßstäbe zur Rechtstreue und deren Durchsetzung im Unternehmen (CMS) auf die Siemens-Amtszeit von Neubürger anlegen?

Helmut Krenek: Es geht nicht darum, dass im Urteil die Maßstäbe von heute angelegt worden sind. Sondern, dass die Kammer eine Beurteilung aus Sicht ex ante und gerade nicht aus Sicht ex post vorgenommen habe. Das Compliance-System hat bei Siemens zum damaligen Zeitpunkt nicht funktioniert. Das hätte man daran sehen können, dass es trotz Anmahnungen aus dem Vorstand immer wieder zu Korruptionsfällen gekommen ist. Aber dann ist doch hinreichend klar, dass der Vorstand, wenn er merkt, es funktioniert nicht, etwas tun muss. Es war aus Überzeugung der Kammer in dem entschiedenen Fall gerade kein Ausreißer. Compliance ist sicher ein „hübscher“ Begriff, aber dass eine Gesellschaft  darauf achten muss, geltendes Recht einzuhalten, ist keine neue Erfindung, die sich Compliance nennt. Es ist eine Selbstverständlichkeit,  die schon lange vorher gegolten hat.

Warum findet die im § 93 AktG festgeschriebene „Business Judgement Rule“ im vorliegenden Fall keine Anwendung?

Die Frage des Ob, also ob ein funktionierendes CMS eingerichtet werden muss, ist sicherlich keine unternehmerische Entscheidung, sondern ergibt sich aus dem Gesetz. Eine Aktiengesellschaft ist  an das Legalitätsprinzip gebunden. Dies ist keine Frage der Business Judgement Rule. Was im Einzelnen für ein Unternehmen notwendig ist, da hat der Vorstand einen Ermessensspielraum. Die Problematik, was konkret ein Unternehmen tun muss, ist einzelfallabhängig. Und Gerichte entscheiden immer nur Einzelfälle, aus denen – das räume ich ein – durchaus auch Rückschlüsse auf andere gezogen werden können. Aber als Richter kann ich Compliance Officern keine Ratschläge geben, wie in ihrem Unternehmen ein funktionierendes System auszusehen hat. Das ist nicht meine Aufgabe als Richter. Sondern da muss sich jeder überlegen, funktioniert es bei uns mit unserem CMS oder müssen wir nachjustieren? Urteile aller Gerichte können indes Anhaltspunkte dafür geben, wie mit bestimmten Fragestellungen umzugehen ist.

Aber man hat mit dem Faktor Mensch zu tun. Es kann immer etwas schief laufen…

Richtig. Wenn bei einem Unternehmen mit mehreren hunderttausend Mitarbeitern einmal irgendwo auf der Welt etwas schiefläuft, kann man das nicht dem Vorstand anlasten. Aber das Compliance-System als solches muss geeignet sein, Derartiges zu unterbinden. Und wenn der Vorfall aufgeklärt wird, könnte dies auch ein Indiz dafür sein, dass ein System sehr wohl funktioniert. Ein Ausreißer ist nie auszuschließen, aber es darf eben kein System sein.

Das heißt, wenn es mal zu einem Ausreißer kommt, aber das CMS an sich wäre dafür geeignet, zum Beispiel Korruption zu verhindern, dann berücksichtigen Sie das in Ihrer Urteilsfindung?

Natürlich wird das in einem Urteil berücksichtigt! Aber bei Siemens war das damals zur Überzeugung der Kammer nicht der Fall.

Kann ein CFO, der in der Regel dem Vorstandsvorsitzenden untergeordnet ist, überhaupt angelastet werden, dass er die Einrichtung eines CMS nicht gefordert hat? Ist die Unternehmensrealität nicht so, dass ein untergeordneter Vorstand dem Gesamtvorstand nichts „aufdrängen“ kann? Auch ist es derzeit einer der diskutierten Punkte, ob sich ein CFO unter Umgehung des CEO wirklich an den Aufsichtsrat wenden kann.

Eines muss klargestellt werden:  der CEO hat nach deutschem Aktienrecht keine „Richtlinienkompetenz“ gegenüber seinen Vorstandskollegen. Er ist nicht deren Vorgesetzter, sondern es gibt eine Gesamtverantwortung des Vorstandes. Und wenn es, wie bei mehrköpfigen Vorständen üblich, eine Geschäftsverteilung gibt, führt zwar jedes Vorstandsmitglied sein Ressort zunächst eigenverantwortlich. Nur wenn einer der Vorstände merkt, es läuft im Nachbarressort etwas schief, ist er gehalten, einzuschreiten. Der erste Ansprechpartner ist der Gesamtvorstand.  In diesem Gremium muss er gegebenenfalls eine Abstimmung über seine Gegenvorstellungen herbeiführen, damit er dokumentiert,  wenn er überstimmt wird.  Zudem gibt es immer noch die Möglichkeit, sich an den Aufsichtsrat zu wenden. Und im äußersten Fall muss sich das Vorstandsmitglied überlegen, ob er das insgesamt noch für sich verantworten kann und eventuell sein Amt niederlegen. Ob er gerade bei solchen Dingen die Hauptversammlung einschaltet, die zu seiner Enthaftung führen könnte, ist nicht immer weise. Denn vielleicht sollten solche Angelegenheiten lieber nicht in einer Semiöffentlichkeit diskutiert werden.

Innerhalb des Vorstands ist es oft so, dass die Compliance-Verantwortung nur einem Vorstand übertragen wird. Wäre dann, wenn ein Vorfall auftritt, dennoch der Gesamtvorstand verantwortlich?

Ja. Es bleibt bei der Gesamtverantwortung des Vorstandes, denn eine Ressortverteilung wirkt nur nach innen. Und wenn mehrere Vorstandsmitglieder ihre Pflichten verletzen, haften sie als Gesamtschuldner, egal wer von ihnen vorher das Compliance-Ressort unter sich hatte. Jeder von ihnen haftet auf den vollen Schaden mit der Möglichkeit, dann im Einzelfall bei seinem oder seinen Vorstandskollegen Regress zu nehmen. Nur an dieser Stelle spielt die interne Ressortverteilung eine Rolle.

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