Aus der Vogelperspektive

Essay

Charles Munger, 90 Jahre alt, Vizepräsident der Investmentholding Berkshire Hathaway und bester Freund von Warren Buffet, sagte kürzlich auf der Jahresversammlung des Unternehmens: „Anstatt die Reihen mit Anwälten und Compliance-Leuten zu füllen, stellt Leute ein, denen Ihr wirklich vertraut – und lasst sie ihren Job tun.” Der Vorwurf, dass Compliance Officer angeblich immer im Geschäft stören, ist ja nicht neu. Dass eine ganze Berufsgruppe aber durch schlichtes Vertrauen ersetzt werden soll schon. Die besten Ergebnisse, so Munger, werden nicht geliefert, je mehr Prozesse und Compliance im Unternehmen vorhanden seien, sondern indem man im „nahtlosen Netz” aus „verdientem Vertrauen” operiere. Dazu sollte man Leute mit gutem Charakter einstellen. Dieses System sei das effizienteste, so Munger (siehe Essay Larcker/Tayan).

Liest man das zum ersten Mal, reagiert man darauf reflexartig mit Zurückweisung. Mal wieder der übliche Compliance-Frevel. Doch das, was er sagt, vorschnell in die Abteilung „Opa erzählt vom Krieg” abzuschieben, wäre auch nicht richtig. Denn gerade das wollen doch die Compliance Officer – das Geschäft effizienter machen, indem man Schaden von ihm abwendet. Und beschäftigt man sich mit Mungers Sicht der Dinge näher, auch aus psychologischer Sicht, merkt man, wie Recht er in weiten Teilen hat. Vielleicht muss man erst die richtige Flughöhe erreicht haben und die Dinge mit Abstand betrachten, um das Wesentliche zu sehen?

Natürlich wird ein global agierendes Unternehmen nicht ohne Compliance Officer auskommen. Denn da wären ja zum Beispiel der FCPA, wonach das Unternehmen nur dann haftet, wenn es den Fall verschuldet. Oder der UK Bribery Act, wonach das Unternehmen Frage und Antwort stehen soll, was es getan hat, um einen Korruptionsfall zu verhindern. Die Unternehmen setzen sich also einem Risiko alleine schon deswegen aus, wenn sie keine Compliance-Organisation vorweisen können, ganz abgesehen von den diesbezüglich noch klarer regulierten Finanz- und Versicherungsinstituten. In Deutschland existiert in dieser Hinsicht bislang nur ein Entwurf des renommierten Strafrechtlers Prof. Dr. Beulke zur Anpassung des OWiG, in dem die Aufnahme von Anreizen zur Einrichtung eines CMS vorgeschlagen wird. Und als Zweites ist der Entwurf eines „Verbandsstrafgesetzbuches” zu nennen, der in § 5 eine Art Exkulpationsmöglichkeit vorschlägt, wenn das Unternehmen ein CMS vorweisen kann.

Doch auch ohne die beiden Entwürfe gibt es bereits im deutschen Recht entsprechende Regelungen, die zwar die Berufung eines Compliance Officers durch die Geschäftsführung nicht direkt fordern, aber letztlich darauf hinauslaufen. So zum Beispiel § 831 BGB, in dem geregelt wird, dass die Haftung des Geschäftsherrn nicht eintritt, wenn er bei der Auswahl der bestellten Verrichtungsgehilfen die erforderliche Sorgfalt beachtet hat bzw. die Aufsichtspflicht gem. § 130 OWiG. Daran sieht man, dass das Vertrauen allein nun mal als gehörige Aufsicht nicht ausreicht. Die Unternehmen werden durch das Gesetz gezwungen, entsprechende Schritte zu unternehmen. Doch auch von den Psychologen wird bestätigt, dass Vertrauen alleine nicht reicht. In einem Unternehmen arbeiten Vertriebsleute, Einkäufer, Personalmanager und viele mehr. Und sie alle haben ihre spezifische Denke. Alle von Ihnen verstehen das, was sie aus den Vorstandsetagen erreicht, auf ihre eigene Art. Deswegen muss manchmal eben jemand da sein, der diese Botschaften einheitlich erklärt und in einen Kontext einordnet. „Das ist einer der Gründe, wozu ein Unternehmen Compliance Officer haben sollte. Ihre Maßnahmen geben Orientierung und Maßstab für das, was im Unternehmen eine vertrauensvolle Grundlage bildet. Wenn man allen Mitarbeitern blind vertrauen würde, würde man als CEO scheitern”, sagt Prof. Dr. Christian Dries, Dozent für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Fresenius.

Kritik nicht wortwörtlich verstehen

Natürlich muss man Mungers Philosophie dem Sinn nach verstehen. Er selbst ist Jurist und weiß, was einem blüht, wenn man Gesetze nicht einhält. „Seine Kritik wendet sich gegen einen zu starken Formalismus und richtet den Blick darauf, dass es eher um Werte geht, als um Regeln oder das Abhaken irgendwelcher Kästchen. Mittlerweile hat man sehr viele Regeln, Prozesse und Prüfungen eingeführt und die Übersicht verloren. Dadurch wird das Ganze sehr komplex, ohne dass es uns in der Sache voranbringt”, sagt Dr. Heiko Willems, Abteilungsleiter für Recht und Versicherung beim Bundesverband der Deutschen Industrie. Den Grund dafür sieht er in einer zu starken Absicherungsmentalität.

Prof. Dr. Dr. Uwe H. Schneider, Direktor des Instituts für deutsches und internationales Recht des Spar-,Giro-und Kreditwesens an der Universität Mainz, war einer der Ersten, der über Compliance in Deutschland forschte und veröffentlichte. Bei den heutigen Fehlentwicklungen sieht er die Schuld nicht bei den Compliance Officern. Richtig ist vielmehr: „Es gibt drei Fehlentwicklungen. Erstens, gehen vielfach die rechtlichen Anforderungen an Compliance zu weit. Zweitens, überziehen die Aufsichtsbehörden ihre Anforderungen. Und drittens, neigen manche Unternehmen bei der Umsetzung zu übertriebenen Ausgestaltungen. Man sollte sich daran erinnern, dass es die erste Aufgabe des Unternehmens ist, Arbeitsplätze zu schaffen, Geld zu verdienen und uns mit Produkten und Dienstleistungen zu versorgen. Die Compliance einer Organisation hat nur eine Hilfsfunktion.” Er ruft daher zum Maßhalten auf.

Psychologen sehen in Compliance einen Ausdruck des Misstrauens, also das Gegenteil von dem, was Munger predigt. „Compliance heißt übersetzt Gefügigkeit, daher sind Compliance-Regeln Gefügigkeitsregeln. Die Compliance Officer müssen aufpassen, dass sie die Mitarbeiter nicht derart verunsichern, dass diese nicht mehr wissen, was sie noch machen dürfen und was nicht”, sagt Prof. Dr. Myriam Bechtoldt, Professorin für Organizational Behavior an der Frankfurt School of Finance & Management.

Was Verbote auslösen

Compliance Officer arbeiten viel mit Verboten und Geboten. Da die Berufsgruppe zum größten Teil aus Juristen besteht, werden eher wenig Gedanken darauf verschwendet, was eigentlich eine Fokussierung auf solche Regelwerke, beispielsweise bei den Schulungen, in den Köpfen der Mitarbeiter auslöst.

Ausgangspunkt der Überlegungen ist hier, dass ein Unternehmen ein Zusammenschluss von Menschen ist, die gemeinsam mehr bewirken können als alleine. In einem solchen Zusammenschluss sind alle wichtig und übernehmen Verantwortung für den Erfolg des Unternehmens. „Wenn nun ein Konvolut von Compliance-Regeln auf mich niederprasselt, werde ich als Mitarbeiter quasi entmündigt. Was sich psychologisch einstellt, ist, dass ich nicht mehr Partner bin, sondern eher eine Kindsrolle zugewiesen bekomme”, erklärt Prof. Dr. Bechtoldt. „Da gibt es sozusagen Elternfiguren, die stehen über mir und sagen, was ich zu tun habe. Im Kopf nimmt mir das die Überzeugung, ich sei selbst in der Lage zu entscheiden, was richtig und was falsch ist.”

Dabei sollten doch gerade die Schulungen dazu dienen, bei den Mitarbeitern ein Gefühl dafür zu entwickeln, was richtig und was falsch ist. Denn es gibt Tausende von Variationen von bestimmten Situationen, die nicht durch einen Regelkatalog abgedeckt werden können. „Es ist daher wichtig, die Mitarbeiter darin zu stärken, dass sie mitdenken. Sie müssen wagen, Entscheidungen auch dann zu treffen, wenn die Situation vom Standard abweicht, und dafür Verantwortung übernehmen”, so Prof. Dr. Bechtoldt.

Beispiele für Compliance-Exzesse gibt es genug. Willems erzählt vom „Blumenstrauß-Fall”, der ihm die ganze Tragweite vor Augen führte. „Wir hatten in Zusammenarbeit mit einem Unternehmen eine Veranstaltung durchgeführt. Nach Beendigung wollten wir den Damen dieses Unternehmens, die das Ganze von der organisatorischen Seite betreut haben, als Dankeschön einen Blumenstrauß zusenden. Der wurde an uns zurückgeschickt mit der Begründung, sie dürfen nichts annehmen”, erzählt Willems. „Wenn man ohne Rücksicht auf Umstände sagt, das darf man nicht, dann verlieren die Menschen den gesunden Menschenverstand und gefährden letztlich die Akzeptanz von Compliance. Denn diesen Fall kann man niemandem mehr vernünftig erklären.”

Das Sein bestimmt das Bewusstsein

Warum machen das manche Compliance Officer? Absicherungsmentalität alleine erklärt das nicht. Aus psychologischer Sicht formt der Beruf den Charakter. „Wenn man permanent mit Gesetzen und mit der Abwehr von Strafen zu tun hat, kann das den Charakter ins Negative verändern und Misstrauen erzeugen”, erklärt der Psychologe Dries. Er rät daher, darauf zu achten, dass „Gebote intuitiv richtig sind. Die Compliance Officer müssen lernen, das Positive zu sehen und das stärker bei ihren Botschaften zu verkaufen.”

Das Ganze wirft die Frage auf, was dann der gesunde Rahmen für die Compliance-Arbeit wäre? „Compliance ist im Grunde genommen eine relativ harmlose Geschichte. Die Aufgabe der Compliance besteht in der Information der Mitarbeiter, der Kontrolle ihres Verhaltens und letztendlich der Sanktionierung”, sagt Prof. H. Schneider. „Bei der Information macht es keinen Sinn, große Broschüren über Hunderte von Seiten zu erstellen. Bei der Aufsicht sollten die Mitarbeiter nicht überängstlich behindert werden. Auch die Sanktionen sollten nicht überzogen werden.” Seiner Ansicht nach muss die Compliance-Organisation einfach ausgestaltet werden, aber nicht zu einfach. „Die Kunst ist, die Dinge herunterzubrechen auf das Wesentliche”, meint er.

Prof. Dr. Margit Osterloh, Professorin an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und Professorin (em.) am Institut für Betriebswirtschaft der Universität Zürich, forscht zum Thema Anreizpolitik in den Unternehmen und Corporate Governance. „Der Compliance Officer muss sich als Coach verstehen. Er kann für die Überregulierung nichts. Aber er kann schon festsetzen, was der geeignete Rahmen ist”, sagt sie. „Es kommt auf die richtigen Anreize, auf die richtige Personalauswahl und die richtige Unternehmenskultur an.”

Perversion der ­Unternehmensstruktur

Genau beim Thema Unternehmenskultur stößt jede Compliance-Bemühung an ihre Grenzen. Der Compliance Officer alleine wird die Dinge im Unternehmen nicht verändern. Charles Munger spricht in diesem Zusammenhang von der Perversion einer Unternehmensstruktur. Nach seiner Auffassung, ist ein Unternehmen dann pervertiert, wenn es aufgrund seiner Struktur den Mitarbeitern leicht gemacht wird, einen Betrug zu begehen. Somit schade es seinen Mitarbeitern moralisch, da es gute Menschen dazu bringe, Schlechtes zu tun. Er plädiert deswegen dafür, ein auf menschlicher Psychologie basierendes Unternehmenssystem aufzubauen, das schwer zu umgehen ist. Es geht also zum einen darum, dass man an den gefährlichen Stellen präventive Mechanismen implementiert, die es den Mitarbeitern schwermachen, sich unethisch zu verhalten. Zum anderen geht es aber um Wertmaßstäbe, die in einem Unternehmen vorherrschen. Menschen spüren es instinktiv, welcher Geist im Unternehmen herrscht und was von ihnen tatsächlich verlangt wird. „Vielleicht wird es von mir als Mitarbeiter erwartet, dass ich Unternehmenserfolg über Dienst am Kunden stelle? Da kommt es auf die Kultur im Unternehmen an. Und das wird man mit Compliance Officern nicht verändern”, sagt die Psychologin Bechtoldt.

Ein Teil einer guten Unternehmenskultur ­sollte die organisationelle Ge­rechtigkeit sein. Diese ist schon alleine aus betriebswirtschaftlicher Sicht wichtig. „Wir sind in einem Kulturkreis, der sich an Gerechtigkeit und Gleichheit orientiert. Manches wird im Unternehmensleben von den Mitarbeitern als ungleich erlebt”, sagt Prof. Dr. Dries. Daher macht erlebte Ungerechtigkeit Loyalität zum Unternehmen kaputt. „Das entscheidet mit, ob ich mich als Mitarbeiter innerhalb des Unternehmens ethisch verhalte und mich an die Spielregeln halte”, fügt Prof. Dr. Bechtoldt hinzu.

Der Psychologe Jerald Greenberg untersuchte bereits 1987 das Konzept der organisationalen Gerechtigkeit. Es handelt sich um die Art und Weise, wie die Mitarbeiter das Verhalten des Unternehmens beurteilen und in welche Einstellungen und Verhalten diese Beurteilung mündet. Greenberg führte dazu ein Feldexperiment durch: Zwei Produktionswerke eines Unternehmens teilten ihren Mitarbeitern mit, dass wegen aktueller Auftragseinbrüche für 10 Wochen die Gehälter um 15 Prozent gekürzt würden. Im ersten Unternehmen wurde das auf einer Betriebsversammlung ausführlich erklärt, mit den Mitarbeitern diskutiert und vor allem Bedauern ausgedrückt. Es wurde erläutert, dass auch die Geschäftsführung von den Gehaltskürzungen betroffen sei. Im zweiten Werk gab man sich bei der Mitteilung der Lohnkürzungen nicht viel Mühe. Es gab nur eine kurze Betriebsversammlung, keine Erklärungen, kein Bedauern. Im Ergebnis stieg mit den Lohnkürzungen auch die Materialdiebstahlquote in den Werken. In dem Werk aber, in dem wenig erklärt wurde, stieg diese Quote im Vergleich dreimal so stark an wie in dem Werk, in welchem man sich für die Mitarbeiter Zeit genommen hatte. „Mitarbeiter rächen sich, wenn sie das Gefühl haben, dass die Organisation sie nicht fair behandelt”, sagt Psychologin Bechtoldt.

Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass gerade die organisationelle Gerechtigkeit und das Vertrauen, von dem Munger spricht, sich wechselseitig bedingen. Wird von den Mitarbeitern das Verhalten des Unternehmens als gerecht empfunden, dann entwickelt sich bei ihnen das Vertrauen in das Unternehmen und die Geschäftsleitung, dass sie auch weiterhin gerecht behandelt werden. Wie führt man also durch Vertrauen? „Aus wissenschaftlichen Untersuchungen wissen wir, dass die Geschäftsleitung, die ihren Mitarbeitern vertraut, dass sie das Richtige tun, einen anderen Führungsstil hat und den Mitarbeitern auch anders begegnet. Und langfristig verhalten sich die Mitarbeiter genau so, wie es die Geschäftsleitung von ihnen erwartet”, sagt Prof. Dr. Bechtoldt.

Belegt wurde diese Aussage schon Mitte der sechziger Jahre durch ein Experiment, das Rosenthal und Jacobson mit Lehrern und Schülern durchführten. Sie wiesen dabei nach, dass Lehrer sich zu Schülern anders verhalten, wenn man ihnen suggeriert, dass einige Schüler besonders begabt seien und ein besonders hohes Leistungspotential hätten. Die Lehrer behandelten dann diese unbewusst mit größerer Förderung und Zuwendung und steigerten somit ihre Leistungen. Dies ist der sogenannte Pygmalion-Effekt, wenn eine Einschätzung sich im späteren Verlauf bestätigt. Das wurde in diesem Experiment dadurch ermöglicht, dass die Lehrer ihre Erwartungen in subtiler Weise den angeblich besonders begabten Schülern übermitteln, aber auch dadurch, dass sie sich für diese Schüler mehr Zeit nahmen und sie stärker förderten. „Damit kreiert man letztlich in einer ‚self-fulfilling prophecy‘ seine eigene Realität”, erklärt die Psychologin Bechtoldt.

Die andere Seite des Vertrauens ist, wie es schon Munger anmerkt, die richtige Personalauswahl. Er sagt dazu, „ein guter Charakter ist sehr effizient”, dem man dann eben vertrauen kann (siehe Essay Larcker/Tayan). Warum verhalten sich manche Menschen unethisch? Psychologen sprechen hier von der Tendenz, kurzfristig attraktiven Belohnungen nicht widerstehen zu können, wobei man die langfristig negativen Konsequenzen zunächst ausblendet. „Es gibt einfach Personen, die sich besser unter Kontrolle haben”, erklärt Prof. Dr. Bechtoldt. Neben dieser Selbstkontrolle zählt zudem die Integrität des Mitarbeiters, ein Persönlichkeitsmerkmal, das die Einstellung zu unethischem Verhalten umfasst. „Dieses Persönlichkeitsmerkmal setzt sich zusammen aus Gewissenhaftigkeit, niedrigem Neurotizismus und Verträglichkeit. Das sind drei Persönlichkeitsdimensionen des Big-Five-Modells, und diese werden in den Integrity Tests abgefragt.”

Integritätstest sind keine Allheilmittel

Integritätstests wurden entwickelt, um ein mögliches schädigendes Verhalten in den Unternehmen vorhersagen zu können. In der Psychologie wird Integrität als Vertrauenswürdigkeit übersetzt. Doch sollte man in diesen Integritätstests aus mehreren Gründen nicht das Allheilmittel sehen. „Schon innerhalb der Konstruktion der Integritätstests wird diskutiert, ob Integrität eine Eigenschaft oder eine Einstellung ist. Denn die Fragen des Tests gehen in beide Richtungen”, sagt Prof. Dr. Dries. Persönlichkeitseigenschaften sind angeboren und unveränderbar. Einstellungen werden dagegen durch Erfahrung und Sozialisierung erworben und sind daher veränderbar. „In der psychologischen Forschung ist die Frage immer noch nicht geklärt, welcher Anteil der Integrität zu Eigenschaften gezählt werden kann und welcher zu Einstellungen”, berichtet Dries. Daraus ergibt sich, dass Integrität nur bedingt durch Schulungen gestärkt werden kann. „Die metaanalytischen Testergebnisse liefern Hinweise darauf, dass die Integritäts-Checks nur begrenzt etwas erklären können. Man kann schon sagen, wenn man Leute einstellt, die hoch gewissenhaft sind, verträglich und emotional stabil, sich diese weniger kontraproduktiv verhalten. Aber dieser Effekt ist nicht sehr stark”, sagt Prof. Dr. Bechtoldt.

Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum man die Einstellung auf der Grundlage der Integrität einer Person hinterfragen sollte. Im Lehrbuch von Asendorpf und Neyer über die „Psychologie der Persönlichkeit” liest man über Integrität: „Einschränkend muss gesagt werden, dass Integrität vermutlich auch deshalb das Vorgesetztenurteil so gut unabhängig von Arbeitsanforderungen vorhersagt, weil Personen mit hohen Integritätswerten eher angepasst und von Vorgesetzten einfach zu handhaben sind. Kreative und leistungsfähige, aber aufmüpfige Mitarbeiter dürften in ihrem Berufserfolg von ihren Vorgesetzten unterschätzt werden.” Und damit bekommt die Integrität einen kleinen unternehmerischen Kratzer. Will ein Unternehmen zwar integre, dafür aber angepasste und gefügige Mitarbeiter? Dies führt zu einem Rückschluss, dass unbedingte Integrität nur da eingefordert werden sollte, wo keine Kreativität benötigt wird. Um mit Goethe zu sprechen: „Wenn man alle Gesetze studieren sollte, so hätte man gar keine Zeit, sie zu übertreten.” Will heißen, gibt es zu viele Regeln und Gesetze und würde man sie ständig alle beachten wollen, würde man nicht zur eigentlichen Arbeit kommen oder geniale Lösungsansätze ausblenden. Die Grenze ist hier natürlich die Illegalität. Und einem Compliance Officer ist es nicht zuzumuten, zu differenzieren, wann eine Übertretung unter Abwägung aller Gesichtspunkte dennoch legitim wäre, obwohl sie vielleicht gegen so manches Gesetz verstoßen würde. Das müsste dann die Unternehmensführung verantworten. An diesem Punkt schließt sich der Kreis, denn diese Überlegungen würden zur Frage nach der Unternehmenskultur, für die die Geschäftsführung verantwortlich ist, und dem Vertrauen führen.

Kontrolle vs. Vertrauen

Dennoch müssen sich die Compliance Officer bewusst machen, dass es innerhalb des Unternehmens Arbeitsstellen gibt, die ein Unternehmen nicht weiterbringen, wenn diese Stellen mit ausschließlich integren Leuten besetzt werden. Dann wäre es die Aufgabe der Compliance zu unterscheiden und genau an diesen Stellen relevante Stellschrauben einzusetzen, um somit die „Pervertierung der Unternehmensstruktur” zu verhindern.

Psychologin Bechtoldt ist sich sicher: „Vertrauen und Kontrolle vertragen sich nicht. Man kann nicht beides haben. An einem der beiden Rädchen wird man drehen müssen. Natürlich verliert man etwas, wenn man Kontrolle aufgibt. Die Frage ist, wo der Verlust größer ist.” Und ist es nicht genau das, was Munger sagt?

 

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