Die Umsetzung der EU-Richtlinie zum Schutz von Whistleblowern hat sich in Deutschland etwa eineinhalb Jahre verzögert. Erst im Juli 2023 trat das Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG) in Kraft. Wie weit sind Unternehmen seitdem mit der Umsetzung gekommen? Nach einem Jahr haben wir mit der EQS Whistleblowing-Umfrage 2024 Bilanz gezogen. Der Anteil der Unternehmen, die ein Hinweisgebersystem eingeführt haben, ist von 82 Prozent im Jahr 2023 auf 97 Prozent gestiegen. Der gesetzliche Druck hat also gewirkt – vor allem, da die zuständigen Behörden inzwischen verstärkt prüfen, ob die Vorgaben tatsächlich umgesetzt werden.
Breite Akzeptanz für Hinweisgebersysteme
Die Ergebnisse der EQS-Umfrage zeigen, dass Hinweisgebersysteme nicht nur von den Unternehmen, sondern auch von den Mitarbeitenden gut genutzt werden. Die Hälfte der befragten Unternehmen erhielt im vergangenen Jahr mindestens eine Meldung über ihr System. Jedes fünfte Unternehmen verzeichnete sogar mehr als zehn Hinweise. Die Zahl der Meldungen nimmt erwartungsgemäß mit der Unternehmensgröße zu. Bei Großunternehmen mit mehr als 10.000 Beschäftigten überschreitet die Anzahl der Hinweise oft die Marke von 50.
Die meisten Meldungen betrafen den Bereich Personalwesen (35 Prozent), darunter Themen wie Diskriminierung oder sexuelle Belästigung. Es folgten Hinweise zu Bestechung und Korruption (18 Prozent), IT und Datenschutz (17 Prozent) sowie Verstöße gegen soziale Standards und Menschenrechte (17 Prozent). Diese Verteilung verdeutlicht die Vielfalt der Herausforderungen, denen sich Unternehmen stellen müssen.
Keine effektive „Speak-up-Kultur“ ohne Kommunikation
Bei solch sensiblen Themen ist es verständlich, dass Mitarbeitende oft Hemmungen haben, Missstände anzusprechen. Ein Hinweisgebersystem allein reicht nicht immer aus, kann aber den Grundstein für eine Unternehmenskultur legen, die Offenheit, Transparenz und Integrität fördert. Mitarbeitende müssen darauf vertrauen können, dass ihre Hinweise ernst genommen und ohne negative Konsequenzen behandelt werden. Laut der Whistleblowing-Umfrage ist eine starke Melde- oder „Speak-up“-Kultur für Unternehmen der zweitwichtigste Grund – nach der Gesetzeskonformität – für die Einführung eines Hinweisgebersystems.
Dennoch informieren viele Unternehmen ihre Belegschaft in der Praxis noch nicht ausreichend über vorhandene Meldekanäle. Oft erfahren sie deshalb zu spät von Missständen, weil die Mitarbeitenden nicht wissen, wohin sie sich wenden können. Laut unserer Umfrage nutzen Unternehmen vor allem das Intranet (79 Prozent), ihre Webseite (65 Prozent) und Newsletter (51 Prozent), um über das Hinweisgebersystem zu informieren.
Allerdings erfolgt in weniger als der Hälfte der Fälle (45 Prozent) die Kommunikation durch das Senior Management. Dabei ist der „Tone from the Top“ entscheidend, um das Wissen über das System und vor allem das Vertrauen der Belegschaft zu stärken.
Anonymität: Für Gesetzgeber ein Streitpunkt, für Unternehmen selbstverständlich
Ein weiterer wichtiger Faktor für den Vertrauensaufbau ist die Möglichkeit, Hinweise anonym abzugeben. Der Gesetzgeber hat lange über die ursprünglich geplante Pflicht zur Einrichtung anonymer Meldekanäle diskutiert. Kritiker befürchteten, dies könnte Missbrauch und „Denunziantentum“ fördern. Doch eine frühere Studie – der Whistleblowing Report 2021 der Fachhochschule Graubünden im Auftrag der EQS Group – widerlegte diese Sorge. Der Anteil missbräuchlicher Meldungen ist bei Unternehmen, die anonymes Melden zulassen, nicht höher als bei denen, die es nicht ermöglichen.
Schließlich wurde die Pflicht, anonyme Meldekanäle anzubieten, aus dem Gesetz gestrichen und nur als Empfehlung formuliert. In der Praxis haben Unternehmen jedoch längst erkannt, dass sie langfristig davon profitieren, anonyme Kanäle anzubieten. Neun von zehn Unternehmen tun dies bereits. Diese Option senkt die Sorge der Whistleblower vor Repressalien und fördert die Bereitschaft, Hinweise bei internen Meldestellen abzugeben. Unternehmen profitieren davon in zweifacher Hinsicht: Sie werden schneller auf Schwachstellen oder Fehlverhalten aufmerksam und können ihre Risiken besser managen. Zudem behalten sie die Kontrolle über die Aufarbeitung der Meldungen. Wenn Whistleblowern intern keine Anonymität geboten wird, wenden sie sich eher an externe Stellen, die fast immer Anonymität gewährleisten. Sobald jedoch die Aufsichtsbehörden ermitteln, können Unternehmen nur noch reagieren – so weit sollten sie es nicht kommen lassen.
Technologie als Enabler für effiziente Compliance
Echte Anonymität für Whistleblower können Unternehmen nur durch technische Lösungen gewährleisten. Zudem ist ein integrer und effizienter Hinweisgeberschutz mit Briefkästen und Exceltabellen nicht mehr möglich – vor allem in größeren Unternehmen, die jährlich zahlreiche Hinweise erhalten und diese gründlich prüfen müssen. Häufig arbeiten mehrere Personen an der Bearbeitung dieser Meldungen. Vor Inkrafttreten des HinSchG kritisierten einige Unternehmer und Wirtschaftsverbände den hohen Umsetzungsaufwand. Denn nach der Einrichtung einer Meldestelle müssen langfristig Ressourcen für die Bearbeitung der Hinweise bereitgestellt werden.
Ein digitales Tool kann hier Abhilfe schaffen. Es ermöglicht, den gesamten Prozess – von der Erstmeldung über die Bearbeitung bis zur Kommunikation mit dem Whistleblower – effizient zu gestalten. Drei Viertel der Unternehmen in der EQS-Umfrage setzen dabei auf ein internes oder – mehrheitlich – externes Softwaresystem.
Integrative Compliance: Mehr als ein technisches Upgrade
Für Unternehmen reicht es nicht aus, nur ein Hinweisgebersystem einzuführen. Effektives Compliance-Management erfordert mehr als einzelne technische Lösungen zur Erfüllung eines spezifischen Gesetzes. In einem zunehmend komplexen Marktumfeld ist es riskant, gesetzliche Vorgaben isoliert zu betrachten. Stattdessen braucht es ganzheitliches Denken und Systeme, die in die Unternehmensstrategie integriert sind. Diese Systeme müssen Transparenz, Sicherheit und Effizienz gewährleisten.
Im Kontext des Hinweisgeberschutzes bedeutet das, dass digitale Plattformen nicht nur als Kanäle zur Entgegennahme von Hinweisen dienen, sondern als zentrale Elemente einer umfassenden Compliance-Strategie. Fast drei Viertel der befragten Unternehmen (73 Prozent) gewähren neben ihren Mitarbeitenden auch externen Stakeholdern wie Kunden und Partnern Zugang zu ihren Meldekanälen. Das zeigt nicht nur Transparenz, sondern ist eine Notwendigkeit für Unternehmen, die von gesetzlichen Regelungen zu Lieferketten betroffen sind. Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) verpflichtet deutsche Unternehmen, Meldekanäle für externe Stakeholder entlang der gesamten Lieferkette zugänglich zu machen. Auch die EU-Richtlinie zur „Corporate Sustainability Due Diligence“ betont diese Verpflichtung.
In einer globalen, vernetzten Wirtschaft können Hinweise aus verschiedenen Bereichen – ob intern oder entlang der Lieferkette – entscheidende Informationen liefern. So lassen sich Risiken nicht nur im Hinblick auf das HinSchG, sondern auch auf andere rechtliche Vorgaben minimieren und ethische Standards wahren. Das ist entscheidend, um das Vertrauen von Kunden, Partnern, Investoren und Mitarbeitenden zu sichern. Das Hinweisgeberschutzgesetz legt den rechtlichen Grundstein. Seinen vollen Wert entfaltet es jedoch erst, wenn der Hinweisgeberschutz Teil einer umfassenden, global ausgerichteten Compliance-Strategie wird. Unternehmen, die ihre Strategie entsprechend anpassen, sichern langfristig ihre Reputation und ihren Geschäftserfolg.