Globale HR Governance: Wie internationale Unternehmen Haftungsrisiken bei Arbeitsbedingungen vermeiden – und ihre Employer Brand weltweit stärken

HR-Compliance

Es ist zwölf Uhr fünfundzwanzig auf der Hauptversammlung eines globalen Industriekonzerns. Der Vorsitzende des Aufsichtsrats blickt zum Personalvorstand und liest die Frage eines aktivistischen Aktionärs vor: „Ihr Unternehmen ist weltweit aktiv, sie beschäftigen mehr Mitarbeiter als eine durchschnittliche deutsche Stadt Einwohner hat. Können Sie uns bitte erläutern, wie Sie sicherstellen, dass sämtliche Arbeitsbedingungen jederzeit rechtskonform sind?“ Der Saal wird still. Darauf gibt es nur eine überzeugende Antwort: ein belastbares, prüffestes Governance-System.

Die Szene steht für eine wachsende Herausforderung global agierender Unternehmen. In der Praxis führen nationale Gesetzesänderungen, lokale Besonderheiten, individuelle Verhandlungen und pragmatische Einzellösungen oft zu stark abweichenden und inkonsistenten Arbeitsbedingungen. Das birgt schwer steuerbare Risiken – für Haftung, Kosten, Reputation und die strategische Steuerungsfähigkeit des Unternehmens. Das gilt besonders in einer Zeit, in der Compliance-Anforderungen bis tief in die globale Lieferkette und erst recht im eigenen Konzern streng überwacht werden. Zugleich sind Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen über Ländergrenzen hinweg vernetzt und im ständigen Austausch. Das macht Inkonsistenzen sichtbarer und potenziell konfliktträchtig.

Der folgende Beitrag zeigt, wie ein durchdachtes Governance-System aufgebaut sein muss, um diese Risiken systematisch zu beherrschen, die globale Arbeitgebermarke zu stärken und zugleich den Vorstand gegenüber Aufsichtsrat, Kapitalmarkt und Gesellschaft auskunftsfähig zu machen.

Es geht nicht um eine Einheitslösung, die lokale Besonderheiten über Bord wirft. Gemeint ist ein austariertes System, das Risiken und Chancen einer zentralen Steuerung von Arbeitsbedingungen in ein Gleichgewicht bringt.

Best Practice – Siemens Energy

Siemens Energy ist in über 90 Ländern aktiv und beschäftigt weltweit mehr als 100.000 Mitarbeitende.

Die unternehmensweite HR Governance ist dabei in den letzten Jahren gleich durch mehrere Faktoren zusätzlich in den internen Fokus gerückt: Das Unternehmen ging im September 2020 im Rahmen eines Spin-offs aus dem Siemens-Konzern an die Börse und übernahm 2022 vollständig die Anteile an Siemens Gamesa.

Die damit verbundene „Herauslösung“ aus dem Siemens-Konzern und die Herstellung von Stand-alone-Fähigkeiten sowie die sich sodann anschließende Integration komplexer, historisch gewachsener arbeitsrechtlicher Regelungen machte deutlich, wie entscheidend ein robustes Governance-System ist, das dem Vorstand nicht nur erlaubt, seinen strategischen Steuerungsanspruch umzusetzen, sondern gleichermaßen Compliance gewährleistet.

Siemens Energy initiierte eine konzernweite Governance-Offensive, die darauf abzielte, Haftungs- und Compliance-Risiken zu identifizieren und sodann zu minimieren, unternehmensweite Transparenz herzustellen und eine globale Antwortfähigkeit der CHRO-Funktion gegenüber Aufsichtsrat, Kapitalmarkt und internen Stakeholdern zu sichern.

Ein erster Meilenstein war hier die Harmonisierung der Arbeitsbedingungen in den Arbeitsverträgen unter angemessener Berücksichtigung lokaler Besonderheiten.

Der Ausgangspunkt: Dynamik und Vielfalt als Risikotreiber

In der Praxis ändern sich Arbeitsbedingungen fortlaufend. Treiber sind zwei Kräfte. Erstens zentrale Konzernvorgaben. Sie sollen weltweit umgesetzt werden – soweit
rechtlich zulässig. Zweitens lokale Entwicklungen. Dazu zählen neue Gesetze, Tarifabschlüsse und standortspezifische Bedarfe. Oft sind Arbeitsbedingungen schlicht „historisch“ inkonsistent. Sie entstanden in lokalen Märkten ohne klare zentrale Steuerung.

Der permanente Wandel erzeugt vor allem Haftungs- und Compliance-Risiken. Bleibt unklar, ob Bedingungen rechtskonform sind, drohen Konsequenzen. Das gilt auch für fehlerhafte Umsetzungen von Änderungen. Hinzu kommen Qualitätsrisiken. Sie entstehen, wenn Standards unklar sind oder fehlen. Kostenrisiken folgen aus ineffizienten Prozessen und Behelfslösungen. Auch teure Nacharbeiten treiben Kosten. Governance-Risiken drohen, wenn Standards verwässern. Auch Steuerungsmechanismen können an Wirkung verlieren. Reputationsrisiken entstehen, wenn Inkonsistenzen sichtbar werden. Das gilt für Mitarbeitende, Betriebsräte und externe Stakeholder. Schließlich sind auch unternehmerische Interessen betroffen. Fehlen in Verträgen essenzielle Schutzmechanismen, entstehen konkrete Geschäftsrisiken. Zum Beispiel Klauseln zu Wettbewerbsverboten, Geheimhaltung oder Freistellung.

Ein systematisches, digital gestütztes HR-Governance-System ist unerlässlich. So lassen sich die genannten Herausforderungen wirksam beherrschen.

„Compliance ist keine Verhandlungssache – es muss uns gelingen, in kürzester Zeit und auf höchstem Niveau jedem Mitarbeiter in jeder Region einen Arbeitsvertrag zur Verfügung zu stellen, der nicht nur compliant ist, den lokalen Erwartungen entspricht, sondern auch die Siemens Energy DNA erlebbar macht. Hierzu hat es sich bewährt, ein global aufgestelltes, zentral gesteuertes Expertenteam einzurichten.“

— Ilkin Karakaya, Group General Counsel, Siemens Energy

Bausteine eines effektiven HR-Governance-Systems

Zentraler Baustein ist ein regelmäßiger, konzernweit etablierter Compliance-Prozess. Er stellt sicher, dass alle Arbeitsbedingungen fortlaufend auf Rechtskonformität und geschäftskritische Risiken geprüft werden. Der Prozess braucht klare Verantwortlichkeiten – für zentrale und lokale Personalbereiche sowie für die juristische Begleitung durch Recht und Compliance. Geplant wird mit festen Prüfzyklen, zum Beispiel jährlichen Überprüfungen durch spezialisierte Teams. Ein integraler Bestandteil ist ein Frühwarnsystem für Gesetzesänderungen, etwa über die Einbindung externer Kanzleien, und die anschließende juristische Bewertung mit Freigabe der Anpassungen.

Nachhaltige Steuerbarkeit entsteht erst, wenn der Prozess in zentrale Systeme und Dokumente überführt ist. Ergänzend braucht es einen globalen Richtlinienrahmen. Er definiert, wie Richtlinien, Verträge und Standards konzernweit gestaltet und fortgeschrieben werden. Dabei unterscheidet er klar zwischen verpflichtenden globalen Standards und lokalen Spielräumen. Letztere schaffen Platz für nationale Vorgaben und berücksichtigen kulturelle Besonderheiten. Die Abstimmung zwischen zentraler Governance und den lokalen Personalorganisationen ist verbindlich geregelt – ebenso die Anforderungen an eine rechtssichere lokale Umsetzung.

Ein weiteres Instrument ist ein Verhandlungsrahmen, zum Beispiel in Form einer Whitelist. Er legt verbindlich fest, welche Themen lokal verhandelt werden dürfen und
in welchem Rahmen. So bleiben zentrale Konzerninteressen gewahrt, ohne die notwendige Flexibilität für lokale Anpassungen zu verlieren – auch wenn Gewerkschaften
oder Betriebsräte mit am Tisch sitzen.

Flankierend braucht es eine Governance-Struktur mit spezialisierten, regional verankerten Kompetenzzentren. Diese Einheiten koordinieren alle Änderungsanträge, sind Ansprechstelle für externe Kanzleien, prüfen und genehmigen lokale Änderungen und pflegen die globale Positivliste („White List“). Sie bilden das Rückgrat der operativen Steuerung.

Digitalisierung als Enabler: Transparenz, Schutz und Kultur

Digitale Transparenz ist die Voraussetzung für wirksame Steuerbarkeit. Herzstück ist eine zentral geführte, digitale Bibliothek der Arbeitsbedingungen (Employment Conditions Library, ECL). Sie bildet alle relevanten arbeitsrechtlichen Regelungen, Vertragsbausteine, Zusatzleistungen und Richtlinien systematisch ab. Damit entstehen rechtskonforme, modular aufgebaute Arbeitsverträge, die weltweit konsistent zum Einsatz kommen.

Änderungen in der Rechtslage werden zentral geprüft, standardisiert umgesetzt und in der ECL dokumentiert. So entsteht globale Transparenz über die jeweils geltenden
Bedingungen in jedem Land. Gleichzeitig sinken Haftungsrisiken, weil jederzeit nachvollziehbar ist, welche Bedingungen wo gelten und wie sie entstanden sind. Auch die Fehleranfälligkeit, die „pragmatische Einzelfalllösungen“ mit sich bringen, wird so eliminiert. Darüber hinaus stärkt das System die kulturelle Konsistenz: Einheitliche, klar begründete Standards prägen die globale Arbeitgebermarke und fördern Werte, die weltweit einheitlich gelebt werden.

Ein besonderer Blick gilt den Bestandsverträgen. In vielen Rechtsordnungen sind sie nur schwer oder gar nicht einseitig veränderbar. Gerade deshalb ist ihre systematische Erfassung entscheidend. Sie ermöglicht es, Risiken wie veraltete Klauseln zu erkennen, zu bewerten und daraus Handlungsoptionen abzuleiten. Auch hier ist die Digitalisierung der erste Schritt zu belastbarer Steuerbarkeit.

Best Practice – Siemens Energy

Vertragsstandards, ECL & globale DNA

Die Einführung digital gestützter Governance-Systeme entfaltet ihren vollen Wert, wenn sie nicht nur rechtliche Sicherheit schafft, sondern auch kulturelle Identität transportiert. Siemens Energy hat diesen Anspruch zum Leitmotiv gemacht.

Die Ausgangslage war hochkomplex: Durch den Börsengang im Jahr 2020 und die vollständige Integration von Siemens Gamesa im Jahr 2022 entstanden große Herausforderungen im Hinblick auf Konsistenz, Steuerbarkeit und vertragliche Klarheit. Siemens Energy hat diese Risiken frühzeitig erkannt und proaktiv adressiert:

What: Das Unternehmen entwickelte ein globales Vertrags-Template, das auf Prinzipien basiert, die direkt aus den Unternehmenswerten abgeleitet wurden. So wurde sichergestellt, dass die Siemens Energy DNA „around the globe“ in allen Vertragsbeziehungen erlebbar wird. Aus dem globalen Template wurden länderspezifische Vertragsfassungen abgeleitet, die sowohl lokalen rechtlichen Anforderungen als auch den konzernweiten Standards gerecht werden.

How: Zur Administrierung des neuen, globalen Standards wurde die Employment Conditions Library (ECL) aufgebaut – ein digitales System zur Vertragserstellung, das es erlaubt, in kürzester Zeit und ohne juristische Kenntnisse compliant Verträge zu erstellen. Die Einführung erfolgte schrittweise: Zunächst wurde das System in kleineren Ländern pilotiert, danach sukzessive auf größere Märkte ausgeweitet. Inzwischen sind die Regionen Afrika und der Nahe Osten vollständig abgeschlossen, Europa und Amerika verzeichnen starke Fortschritte. Das Ergebnis: schnelle, sichere und markenkonsistente Vertragserstellung weltweit.

Governance-Prozess im Ablauf: Vom Trigger zur Umsetzung

Der Governance-Prozess folgt einem klaren Ablauf. Auslöser sind Gesetzesänderungen, lokale Anforderungen oder neue tarifliche Regelungen. Zuerst erfolgt die rechtliche Bewertung auf lokaler Ebene. Anschließend prüft die Zentrale, welche Auswirkungen sich auf globale Standards ergeben. Diese Einschätzung stimmt sie mit der zentralen HR-Governance, der Compliance-Abteilung und gegebenenfalls dem Vorstand ab. Nach der Freigabe setzen die zuständigen Teams die Anpassungen um und spielen sie in Systeme, Prozesse und Dokumente ein. Alle Schritte dokumentieren sie transparent. So bleibt jede Änderung bei Prüfungen und Kontrollen lückenlos nachvollziehbar.

Fazit: Governance ist Steuerung – und Schutz zugleich

Ein stringentes HR-Governance-System ist kein administratives Beiwerk mehr. Es ist ein strategischer Imperativ. Es schafft Antwortfähigkeit gegenüber Aufsichtsrat, Kapitalmarkt und Belegschaft. Es gewährleistet Konsistenz und schützt Unternehmensinteressen durch klare, rechtssichere Arbeitsbedingungen. Und es stärkt die globale Arbeitgebermarke, weil es verbindliche, werteorientierte Standards etabliert.

Die Fähigkeit, globale HR-Governance professionell zu gestalten, entscheidet in einer Zeit wachsender regulatorischer Komplexität über den langfristigen Erfolg eines
Unternehmens.

„In meiner langjährigen Praxis habe ich zahlreiche global agierende Unternehmen gesehen, die sich ein Projekt dieser Dimension vorgenommen haben. Keines hat es bislang in der umfassenden Weise geschafft, wie Siemens Energy im Begriff ist, dies in der Praxis umzusetzen. Ein Meilenstein im Bereich der globalen Employment Compliance!“

— Dr. Bernhard Trappehl, former Chairman EMEA Employment Practice Group, Baker McKenzie

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Berichtspflichten. Das Heft können Sie hier bestellen.

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